SeereisenMagazin Logo klein 347 65EDITORIAL · AUSGABE 5/2019hr

Kai Ortel und Christian Eckardt

Der ganz normale Wahnsinn

Am 10. August widmete der SPIEGEL der Kreuzfahrt-Industrie eine Titelgeschichte. „S.O.S. – Wahnsinn Kreuzfahrt” hieß sie und übernahm damit nicht nur wenig kreativ den Titel eines im Frühjahr erschienenen Buches zum selben Thema (Wolfgang Meyer-Hentrich, „Wahnsinn Kreuzfahrt”, Links Verlag), sondern reihte sich damit ein in das genauso populäre wie in seiner Pauschalität ungerechtfertige „Kreuzfahrt-Bashing” unserer Tage. Auf dem Titelbild zwängt sich ein riesiges Kreuzfahrtschiff zwischen den historischen Kulissen Venedigs und Dubrovniks hindurch, in der „Hausmitteilung” will das Blatt seine Leserreisen auf Kreuzfahrtschiffen überdenken, und im Text kommt zum x-ten Mal ein selbsternannter Experte des NABU zu Wort. Der Rest ist ein Reisebericht aus der Perspektive des Ehepaars Pape aus Braunschweig, garniert mit Anekdoten des Kapitäns der MEIN SCHIFF 6 und hinlänglich bekannten Informationen zum Arbeitsalltag an Bord sowie zum Konzentrationsprozess in der Branche. Sogar die TITANIC muss in einer Grafik als Vergleich herhalten. So weit, so trivial.
Doch was ist dran an der aktuellen Verteufelung einer ganzen Branche, die Millionen von Menschen jahrzehntelang einen Traumurlaub auf See beschert hat, ohne dass jemand daran Anstoß genommen hätte? Auch wir waren diesen Sommer auf Kreuzfahrt. Zehn Tage rund um Großbritannien mit der MSC ORCHESTRA – mit 2.800 Passagieren ein großes Schiff, gewiss. Aber haben wir dabei „selbst abgelegenste Küstendörfer überrollt” (SPIEGEL)? Sind beim Landgang „im Pulk” aufgetreten? Und haben am Ende womöglich gar einen „Urlaub ohne Reue” verbracht? Dreimal Nein. Andere Kreuzfahrtschiffe sind uns in diesen zehn Tagen so gut wie gar nicht begegnet. In Guernsey lagen wir zusammen mit der MAGELLAN auf Reede, und in Dublin leistete uns die kleine CORINTHIAN Gesellschaft, ansonsten war unsere MSC ORCHESTRA in jedem Hafen das einzige Kreuzfahrtschiff. Und im Pulk konnten ihre 2.800 Passagiere in den Häfen schon deswegen nicht auftreten, weil sie sich in Cork, Belfast, Dublin und Glasgow jedes Mal auf wunderbare Weise auf Reisebusse, örtliche Vorortbahnen, Taxis und Mietwagen verteilt haben. In beiden Punkten hat also sowohl das hafen- als auch das bordeigene Management hervorragend funktioniert. Und Urlaub ohne Reue? Gibt es nicht, auch wenn wir mit der Bahn nach Hamburg angereist sind, beim Landgang brav das eine oder andere Pfund im lokalen Einzelhandel gelassen haben und unseren Stewards und Kellnern an Bord so höflich und zuvorkommend wie nur möglich begegnet sind. Wer Urlaub ohne Reue verbringen möchte, muss barfuß zum nächsten Öko-Bauernhof marschieren. Gewandelt haben sich in den vergangenen Jahrzehnten alle Urlaubsformen gewaltig, nicht nur die Kreuzfahrt. Unsere Eltern sind vor 50 Jahren noch für drei Wochen mit einem VW Käfer und zwei bis drei Kindern zum Zelten in den Urlaub gefahren. Für uns Kleine war das damals klasse – heute ist derlei fast undenkbar. Und sicherlich haben wir am dänischen Nordseestrand auch damals schon keinen positiven ökologischen Fußabdruck hinterlassen.
Natürlich sind Kreuzfahrten umweltschädlich. Aber das ist Autofahren auch, und Fliegen sowieso. „Ist es vernünftig, von Berlin nach Triest zu fliegen, um dann mit einem Schiff eine Woche lang auf dem Mittelmeer zu kreuzen?” fragt der SPIEGEL. Nein, ist es sicherlich nicht. Aber was ist schon vernünftig? Mit derselben Fluglinie nach Mallorca zu düsen, um sich dort eine Woche lang die Kante zu geben? Den halben Sommerurlaub lang die Dörfer vor der eigenen Haustür abzulaufen, durch die man sonst immer nur halbblind mit Tempo 50 hindurch fährt? 5,30 € für einen SPIEGEL auszugeben, nur um sich solche Fragen zu stellen? „Das Reisen führt uns zu uns selbst zurück”, hat Albert Camus gesagt. Darum geht es, idealerweise. Wir begegnen beim Reisen fremden Ländern, Menschen und Kulturen und lassen diese auf uns einwirken. Vielleicht macht das dann etwas mit uns selbst, vielleicht auch nicht. Ist Reisen also vernünftig? Das sollte immer noch jeder für sich selbst entscheiden.
Und was die vom SPIEGEL angesprochenen „dunklen Seiten des Traumurlaubs” Kreuzfahrt betrifft: Ja, es gibt sie. Aber wenn Kreuzfahrtreedereien aus steuerlichen Gründen unter Billigflagge fahren, an Bord Lohndumping betreiben oder ihre Schiffe mit Schweröl betreiben, dann nur, weil die Gesetze dies erlauben. Aus dem gleichen Grund wie es billige Kreuzfahrten gibt, gibt es auch billiges Fleisch, billige Textilien und billige Elektronik. Das kann man verteufeln, richtet sich aber in der gegenwärtigen Debatte an den falschen Adressaten. Nicht in erster Linie die Kreuzfahrtreedereien sind schuld an den Auswüchsen ihrer Branche, sondern das gesetzliche Regelwerk, das diese erst ermöglicht. Insofern sollte sich der Protest von SPIEGEL, NABU und Co. nicht an AIDA, TUI oder Carnival richten, sondern an die Damen und Herren MdB, an die EU und an die International Maritime Organisation (IMO). Abgesehen davon natürlich, dass Schiffe wie eine HARMONY OF THE SEAS ein Ergebnis von Angebot und Nachfrage sind, also letztendlich ein (Wunsch-)Produkt des Kunden selber. Der ist immer noch König und könnte freilich sofort nur noch nachhaltige Schiffsreisen zu fairen Preisen in ökologisch unbedenklichen Regionen fordern, anstatt für 399 € mit 5.000 anderen Menschen sieben Tage lang im Mittelmeer im Kreis zu fahren. Tut er aber nicht. Umfragen zufolge spielt der Umweltschutz im Bewusstsein der meisten deutschen Kreuzfahrtgäste keine große Rolle, wobei man fast unterstellen möchte, dass die Befragten bei einer identischen Erhebung zum Thema Hotelurlaub das gleiche Ergebnis abliefern würden. Die aktuelle Klimaschutz-Debatte bringt die Kreuzfahrt genauso wenig ins Wanken wie das Thema Sicherheit. Selbst die schwere Havarie der COSTA CONCORDIA vor sieben Jahren hat zu keiner Abkehr der Gäste vom Urlaub auf dem Meer geführt, im Gegenteil. Laut einer Studie von TUI Cruises haben bislang 8 % der Deutschen eine Kreuzfahrt unternommen, weitere 34 % können sich einen derartigen Urlaub in absehbarer Zeit vorstellen. Bei den Reedereien stehen daher die Zeichen weiterhin auf Wachstum – kein anderes touristisches Segment erlebt derzeit einen vergleichbaren Boom.
Dass die internationale Kreuzfahrt-Industrie derzeit an mehreren Fronten um ihr Image kämpfen muss, rückt sie aktuell zwar öfter ins negative Licht, als ihr selber lieb sein mag, wird ihr aber langfristig nicht schaden. Genauso wenig wie sie gleich zugrunde gehen würde, wenn mehr Länder z. B. dem norwegischen Beispiel folgen würden und tatsächlich Ernst machten mit Anlaufbeschränkungen und strikten Emissionsauflagen. Hier sind in Zukunft kreative technische und organisatorische Lösungen gefragt, doch auch für die war die maritime Wirtschaft immer schon bekannt. Was angesichts der aktuellen Diskussion verwundert, ist lediglich die auf Seiten der Kreuzfahrtreedereien bzw. des Branchenverbands CLIA zur Schau gestellte Ruhe. Fast täglich wird ein anderes Kreuzfahrtschiff durchs mediale Dorf getrieben, doch von der CLIA ist zu den diversen Anschuldigungen nichts zu hören. Ist man dort während des diesjährigen Sommerlochs von dem Thema überrannt worden, oder schnürt man im Hintergrund gerade ein großes Imagepaket, um sich in Kürze gegen die oftmals ziemlich fragwürdigen Presseberichte zur Wehr zu setzen? Bislang jedenfalls sind die meisten Reeder zu den jüngsten Anschuldigungen auf Tauchstation gegangen, was für die Branche eigentlich unüblich ist.
Natürlich sind Kreuzfahrtschiffe, die mit 1 % nur einen Bruchteil der weltweiten Handelsflotte ausmachen, keine ökologischen Engel (auch wenn mit der AIDAnova seit einigen Tagen das erste deutsche Kreuzfahrtschiff eben jenen Blauen Engel ganz offiziell am Rumpf tragen darf). Aber hat sich in den vergangenen Jahren nicht schon viel Positives in der maritimen Wirtschaft getan? Innovative Bug- und Rumpfformen helfen, den Energieverbrauch zu senken, Abgaswäscher wurden und werden nachgerüstet, und auch neue Treibstoffe und Hybridantriebe sind bereits in Verwendung. Dies alles braucht aber Zeit und lässt sich nicht von heute auf morgen umsetzen – zumal für so manche neue Technik auch erst noch verbindliche Regularien geschaffen werden müssen. Viel problematischer als mögliche technische Lösungen für die „grandi navi” ist mittlerweile tatsächlich die schiere Größe der Schiffe selber. Denn selbst wenn man den Reedereien zurufen möchte „Baut endlich wieder kleinere Schiffe!” und jene diesen Ruf tatsächlich erhören, werden die großen Schiffe von heute nicht so schnell verschwinden. Und neue Häfen, die sie aufnehmen könnten, wachsen auch nicht einfach aus dem Boden. Hier gilt es wirklich, die gehäuften Mehrfachanläufe zu entzerren – zum Wohle und Schutz der einheimischen Bevölkerung, Infrastruktur und Kultur, aber auch, um künftigen Generationen das Erlebnis einer Kreuzfahrt nicht kaputt zu machen. Denn die Zeiten kleiner behaglicher „Traumschiffe” sind bis auf wenige Ausnahmen vorbei, ob einem dies gefällt oder nicht. Der Massenmarkt Kreuzfahrt zielt auf Unterhaltung und Spaß ab – und dies ist am wirtschaftlichsten auf großen Schiffen. Ein Wandel weg vom „schwimmenden Wohnblock” (SPIEGEL) wäre, wie so oft, nur durch eine Veränderung des Kundenverhaltens möglich, denn auch in der Touristik ändern sich viele Dinge immer noch am ehesten nach den Regeln der Marktwirtschaft – Angebot und Nachfrage. Erst wenn die Megaliner gemieden werden, dürften die Reeder solche Giganten aufgrund der gesunkenen Nachfrage langfristig nicht mehr in Fahrt bringen. Bis dahin jedoch, lieber SPIEGEL, bleibt es bei „kleinen schwimmenden Städten auf der Jagd nach dem maximalen Shareholder Value”. Muss man angesichts dessen gleich vom „Wahnsinn Kreuzfahrt” sprechen? Das kann man natürlich, aber dann ist bei genauerer Betrachtung das meiste von dem, was unser Alltagsleben in der Ersten Welt ausmacht, wahnsinnig. Der ganz normale Wahnsinn eben.