SeereisenMagazin Logo klein 347 65WESTLICHE KARIBIK · AUSGABE 6/2019hr

19606 15 Carnival Victory Key West17 2018 Kai OrtelIn Key West hat die CARNIVAL VICTORY am Mallory Square festgemacht, fast direkt am historischen Ortskern der Inselhauptstadt. Fotos: Kai Ortel, Berlin

Kai Ortel

Auf Hemingways Spuren –
Durch die Westliche Karibik mit der CARNIVAL VICTORY
Teil 1

Mit ihren 26 „Fun Ships” ist die amerikanische Carnival Cruise Line die größte Kreuzfahrtreederei der Welt. Und auf einer Karibik-Kreuzfahrt mit der CARNIVAL VICTORY ist so einiges anders als in „old Europe”. Teil 1 des zweiteiligen Reiseberichts beschreibt den ersten Teil der Karibik-Kreuzfahrt von Miami über Key West nach Cozumel.

Es dauert erstaunlich lange, bis am ersten Abend die magischen Worte zum ersten Mal an Bord erklingen: „Aruba, Jamaica, oh I want to take ya.” Die Beach Boys-Hymne an die Karibik – „Kokomo”. Dabei gibt es Kokomo gar nicht. „Off the Florida Keys, there’s a place called Kokomo”, heißt es zwar in dem Song, doch das war künstlerische Freiheit. Selbst ein ausgedachter Ort könne aber für einen Moment real werden, wenn er von realen Dingen handelt, schreibt Brian Wilson, Mastermind der Beach Boys, in seiner Autobiografie. Und so ist Kokomo trotzdem zum Inbegriff der Karibik geworden – that’s where you want to go to get away from it all.”
Genau dies ist auch Sinn und Zweck der bevorstehenden Reise. Jeden Montag startet die CARNIVAL VICTORY in Miami zu einer Vier-Tage-Kreuzfahrt, die sie „off the Florida Keys” führt, nach Key West nämlich und nach Cozumel an der mexikanischen Küste. Außerdem haben wir Mitte März – in den USA traditionell die Zeit der „Spring Breaks”. Studentinnen und Studenten aus allen 50 Bundesstaaten nehmen sich eine Auszeit vom Lernstress und lassen es sich auf den Karibik-Kreuzfahrtschiffen von Carnival und Co. gut gehen, Alkohol- und andere Exzesse inklusive. Wer sich dies im bewegten Bild vergegenwärtigen möchte, möge auf Youtube einfach „spring break cruise” eingeben, um zu erkennen, dass dagegen sämtliche AIDA-Kreuzfahrtschiffe daherkommen wie eine müde Kopie des Love Boats. Eines dürften die bevorstehenden vier Tage auf der CARNIVAL VICTORY also nicht werden: langweilig.
Schon die Einschiffung in Miami, der selbsternannten Kreuzfahrthauptstadt der Welt, hat so gar nichts gemein mit dem Procedere in Bremerhaven, Hamburg oder Kiel. Im Terminal dröhnt Bon Jovi in voller Lautstärke aus den Boxen, das würde man sich hierzulande nicht mal mit Helene Fischer trauen. Und auch der Dresscode ist, nun ja, nennen wir es: pan-amerikanisch. Der Herr trägt vorzugsweise Hawaii-Hemd und Shorts, die Dame Blümchenkleid, und bei den Kopfbedeckungen halten sich, ganz unabhängig vom Geschlecht, Baseball-Mützen und Cowboy-Hüte die Waage. Was Alter und Demografie betrifft, ist das Publikum dagegen bunt gemischt. Viele Familien gehen an Bord, aber auch Paare und die vorhergesagten Studentengruppen. Wobei die Springbreak-Passagiere schon von Weitem an ihren bunt bedruckten Motto-T-Shirts zu erkennen sind; vielleicht auch deshalb, damit man sie zu späterer Stunde an Bord leichter zu ihrer Gruppe zurückbringen kann, wenn bei ihnen im Zustand erhöhter Lebensfreunde der Orientierungssinn nachgelassen hat.
Der Check-In wird ohne ein Stück Papier erledigt. Seine Passagierdaten hat man lange vor der Reise online übermittelt, und die Häkchen beim Gesundheits-Check macht ein Mitarbeiter im Terminal auf seinem Tablet. Um kurz vor 12 Uhr geht es schon an Bord – ohne Gepäck, ohne das in Europa obligatorische Bündel aus Tagesprogramm, Ausflugsprogramm und Infos zu Getränkepaketen und Wellness-Angeboten und ohne jeden Zweifel, dass die nächsten Tage unvergleichlich entspannt werden. „Defy a little bit of gravity”, um bei Kokomo und den Beach Boys zu bleiben.
Allerdings öffnen mit dem Boarding auch die Restaurants an Bord, und da ist es mit der Leichtigkeit erst einmal vorbei. Wer nicht schnell genug ist, muss Schlange stehen, egal ob im Lido Restaurant, an „Guy’s Burger Joint”, beim „Pizza Pirate” oder an der Tacos- und Burrito Bar. Doch das Warten lohnt sich, denn alle Burger, Pizzen und Tacos werden frisch zubereitet.

Seepferdchen und Medusen
Die CARNIVAL VICTORY war im Jahr 2000 das dritte der aus fünf Einheiten bestehenden Baureihe vom Typ CARNIVAL DESTINY, die hierzulande vor allem durch die Schwesterschiffe COSTA MAGICA und COSTA FORTUNA bekannt ist. Bei Indienststellung gehörte sie mit ihren 101.509 BRZ zu den größten Schiffen in der Carnival-Flotte, in den letzten Jahren sind aber die Einheiten der CONQUEST- und der DREAM-Klasse größenmäßig an ihr vorbeigezogen. Nichtsdestotrotz ist die CARNIVAL VICTORY mit ihren 14 Decks und ihrem riesigen Atrium, das über neun Decks reicht, eine äußerst beeindruckende Erscheinung. Das übergeordnete Thema der Inneneinrichtung, die wie seinerzeit üblich von Joe Farcus stammt, sind die sieben Weltmeere. Die öffentlichen Räume an Bord tragen daher nicht nur Namen wie „Atlantic Dining Room”, „Pacific Dining Room”, „Club Arctic”, „Caribbean Lounge” oder „Coral Sea Café”, sondern es wimmelt an Bord auch nur so von Bildern und Figuren von Seepferdchen, Medusen, Tintenfischen und Meeresgott Neptun persönlich. Das muss man nicht mögen, macht das Schiff aber unverwechselbar und kommt insgesamt auch nicht ganz so grell-bunt daher wie andere Schiffe in der Carnival-Flotte. Die dominierende Farbe an Bord ist grün, und da ansonsten alles auf dem Schiff – vom Getränkebecher bis zum Schornstein – in den Carnival-Farben rot und blau gehalten ist, bleiben einem auf der CARNIVAL VICTORY wenigstens gewagte Farbkombinationen aus Pink, Lila und Türkis erspart.
Aufgrund ihrer Größe waren die Schiffe der DESTINY-Klasse die ersten, die über gleich zwei Hauptrestaurants verfügten, welche über zwei Decks reichten. Auch die „Caribbean Lounge”, das große Show-Theater im vorderen Teil des Schiffes, fasst nicht weniger als 1.500 Gäste. „Think big” war also in jeder Hinsicht das Motto beim Bau des 400 Millionen US-$ teuren Schiffes. Seit ihrer Indienststellung sind jedoch auch Änderungen an Bord vorgenommen worden. So hat die CARNIVAL VICTORY 2007 das „Carnival Seaside Theater” (eine große Kinoleinwand auf dem Pooldeck) und eine Sushi Bar bekommen, und 2015 wurde sie an das Fun Ship 2.0-Konzept angepasst, als an Bord die Alchemy Bar, Seuss at Sea, die Skybox Sports Bar und die Taste Bar eingeführt wurden. 2018 kamen im Rahmen eines weiteren Umbaus Neuerungen wie der Cherry on Top-Shop, die Red Frog Rum Bar, die Blue Iguana Tequila Bar, die Blue Iguana Cantina und Guy’s Burger Joint hinzu. Für Traditionalisten ist das Carnival-Schiff dagegen eher weniger geeignet. Nicht nur kommt das Tagesprogramm „Fun Times” ohne jegliche nautische Informationen aus (dafür mit drei Zeilen „Fun Facts” zu den jeweiligen Häfen), auch ein Display, das wie bei Costa die Routen und Standorte der übrigen Flottenmitglieder anzeigt, gibt es hier an Bord nicht. Schade, bei 26 Schiffen wäre das interessant gewesen und eine gute Werbung für die Carnival Cruise Line obendrein. Dafür tobt auf dem Pooldeck bereits kurz nach der Einschiffung das Leben. An der 65 m-Wasserrutsche „Twister” steht eine lange Schlange, und auch das „Serenity Retreat”, das eigentlich Erwachsenen ab 21 Jahren vorbehalten sein soll, ist mitsamt seinen Liegen, Strandkörben und Whirlpools von Halbstarken in Beschlag genommen. Dazu gibt es Nonstop-Beschallung mit Reggae- und Calypso-Rhythmen, das Oeuvre von Bob Marley und von Bands wie UB 40 oder Inner Circle geht einem somit schon am ersten Tag an Bord in Fleisch und Blut über.

Is this a party or what?
Richtig laut wird es aber erst bei der Sail away-Party. Pünktlich um 16 Uhr, als die CARNIVAL VICTORY von Miamis Dodge Island ablegt und sich an der NORWEGIAN SKY vorbeischiebt, gibt es auf dem Pooldeck keinen freien Platz mehr. Kreuzfahrtdirektor Felipe animiert die Umstehenden zum Tanzen, und anders als auf europäischen Schiffen lässt sich niemand lange bitten. Auch „The Cat in the Hat”, eine der Figuren aus den Kinderbüchern von Dr. Seuss, mischt kräftig mit. Beneiden möchte man das Besatzungsmitglied in dem riesigen Katzenkostüm allerdings nicht, als es kurze Zeit später eine Polonäse über das Pooldeck anführt, während die Bässe wummern und Felipe den Passagieren weiter mit markigen Sprüchen einheizt. „Is this a party or what?”, ruft er, und die Menge jubelt. Das Interesse an der Skyline der Stadt und an Miami Beach hält sich derweil in Grenzen, auch Ansagen oder Auslaufmusik gibt es keine. Letztere würde aber auch untergehen in dem Lärm, den die Sail away-Party verbreitet. Nur auf dem kleinen Sonnen- und Pooldeck achtern geht es schon wenige Minuten nach der Abfahrt wesentlich gemächlicher zu. Hier gibt es keine Wasserrutsche, keine Musik und keine Animation; wer es lieber ruhig mag, findet also selbst auf einem Carnival-Schiff ein stilles Plätzchen.
Dafür werden am frühen Nachmittag die Schlangen am Pizza- und Burger-Stand wieder länger und länger. Auch der Anteil Passagiere, die ihrem Lebenswandel einen stattlichen „Rettungsring” in der Bauchgegend verdanken, ist erschreckend hoch an Bord. Es schwabbelt, wabbelt und quillt, wohin man blickt, aber der Lebensfreude tut dies zum Glück keinen Abbruch. Pizza, Burger und Tacos werden mit XXL-Bechern Cola („Less trips to the bar, more time in the lounge chair”) heruntergespült, dass es jedem Sternekoch bei Seabourn, Oceania und Co. kalt den Rücken runter laufen würde. Doch deren Motto lautet ja auch nicht „Fun for all. All for Fun.” Um 18:30 Uhr finde auch ich endlich einen Platz im Buffet-Restaurant. Für den Gourmetgaumen ist das allerdings zunächst noch nichts. Der Schweinebraten ist nicht einmal angebraten, der Reis schmeckt nach gar nichts, und die Bohnen sind kalt. Ich bin fürs erste vorgesättigt, freue mich aber umso mehr auf das „richtige” Abendessen nachher im Atlantic Dining-Room.
Zunächst geht es aber zum Shore Excursions-Büro. Morgen laufen wir Key West an, wo der Besuch des dortigen Hemingway-Museums auf meinem Programm steht. Ich möchte gerne die Öffnungszeiten und Eintrittspreise wissen, ob man mir da helfen könne. Nein, könne man leider nicht, das Museum werde nur im Zusammenhang mit den bordeigenen Touren besucht. Dabei wären die Infos nur drei Klicks entfernt gewesen und es somit eigentlich ein Leichtes, mein Informationsbedürfnis zu befriedigen. Schwach. Auf der anderen Seite trägt die Hälfte der Besatzung am Einschiffungstag T-Shirts mit dem Aufdruck „Just ask”, damit sich alle Passagiere möglichst schnell an Bord zurechtfinden.
Doch der Lapsus ist schnell vergessen, denn ansonsten ist der Service an Bord exzellent. Schon um 19 Uhr liegt das Tagesprogramm für morgen unter meiner Tür, und kaum will ich die Kabine betreten, fängt mich auch schon mein Steward Dave ab und möchte wissen, wann er meine Kabine machen darf. Schnell umgezogen, dann geht es zu besagten Klängen von „Kokomo” („We’ll get there fast and then we’ll take it slow”) zum Abendessen. Und das haut einen förmlich um. Ähnlich wie bei der Schwestermarke Costa steht auch bei Carnival jeder Tag kulinarisch unter einem anderen regionalen Thema. „American Kitchen” nennt dies die Carnival Cruise Line, und am heutigen Abfahrtstag ist das Thema natürlich Miami. Ich nehme das „Flat Iron Steak” mit Backkartoffeln, und das kann man einfach nicht besser zubereiten. Auch die erstklassige Barbecue-Sauce ist hausgemacht und kein Vergleich zu jenen Derivaten, die einem in diversen Fast Food-Ketten unter diesem Namen verkauft werden. Dazu ein herrlich kühler kalifornischer Cabernet und zum Nachtisch ein Eis, und das Menü ist perfekt. Da hat sich das Warten gelohnt. Und während man auf anderen Schiffen dem Hauptrestaurant möglichst oft entflieht, weil die Kommunikation zäh, der Service schleppend und so manche Portion winzig ist, freue ich mich hier bereits auf morgen Abend. Nicht zuletzt wegen der Kellner, die trotz meiner flexiblen Essenszeit („Your Time Dining”) immer für Small Talk oder einen Scherz zu haben sind. Hugo fragt z. B., wie kalt es in Deutschland gerade sei und erschaudert, als ich ihm wahrheitsgemäß von den minus fünf Grad berichte, bei denen ich Berlin gestern verlassen habe.
Um 22:15 Uhr ist Show Time in der Caribbean Lounge, doch das heißt natürlich nicht, dass es anderswo im Schiff nicht auch hoch her geht. Gegenüber der Trident Casino Bar spielt die Bordband Music Power bereits ihr „Best of Decades”, und das sind nicht etwa verträumte italienische Balladen oder deutsches Schlagergut, sondern Songs wie „All night long” von AC/DC, das die Band auf der Arkade „Neptune’s Way” mit einer Lautstärke performt, die auf einem deutschen Schiff binnen Sekunden zu Klage-Androhungen an der Rezeption führen würde. Auch dass Kleinkinder nur anderthalb Meter von den jaulenden E-Gitarren entfernt fröhlich hin und her tollen, stört hier in Amerika niemanden; Eltern, Umstehende und Kinder scheinen in dieser Hinsicht ziemlich schmerzfrei zu sein. Gefolgt wird „All night long” von „Hotel California”, dessen berühmtes Gitarrensolo der Herr von „Music Power” in einer Manier zur Darbietung bringt, dass er damit sofort bei den Eagles einsteigen könnte. Hut ab!
Auch im Show-Theater selber könnte der Kontrast zu Kreuzfahrtschiffen aus „old Europe” nicht größer sein. Denn auf der CARNIVAL VICTORY flippt das Publikum nicht erst nach oder bestenfalls während, sondern schon vor Beginn der Veranstaltung aus. „Welcome aboard” heißt die Show des heutigen Abends, und die kommt lauter, bunter und schriller daher als bei so manch anderer Reederei. Ob das in jedem Fall etwas für den europäischen Geschmack ist, sei einmal dahingestellt, für die knapp 1.000 Amerikaner und Kanadier, die sich dazu eingefunden haben, ist es jedoch die perfekte Abendunterhaltung. Und auch Kreuzfahrtdirektor Felipe beherrscht sein Fach, indem er den zweiten Teil des Programms fast zu einer Felipe-Show macht. „Springbreakers, make some noise!” ruft er in die Runde, und Dutzende Studentinnen und Studentinnen grölen fröhlich zurück. Die Stimmung ist aber zum Glück nur auf dieser Ebene ausgelassen. Alkoholexzesse, blanke Busen oder peinliche Vorkommnisse gab es am ersten Tag nicht. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.

Auf Hemingways Spuren
Am nächsten Morgen liegt die CARNIVAL VICTORY in Key West, dem südlichsten Punkt der USA. Hier endet nicht nur der US Highway #1, sondern auch der Einflussbereich von Uncle Sam, denn nur 90 Seemeilen weiter südlich liegt Kuba. Key West ist, wie der Name schon sagt, die westlichste der Florida Keys, dahinter („off the Florida Keys”) kommen nur noch die Nationalparks der Marquesas und der Dry Tortugas.
Was jedoch nach einem gottverlassenen Flecken Erde und dem Ende der Welt klingt, ist in der Praxis das genaue Gegenteil. Key West ist eine pulsierende Kleinstadt von knapp 27.000 Einwohnern, die genau weiß, worauf sich ihr Ruhm gründet. Präsident Truman hat von hier aus 1950 seine Amtsgeschäfte ausgeübt, Tennessee Williams hat 1947 in Key West „Endstation Sehnsucht” geschrieben, doch am meisten ist die Stadt mit einem anderen Namen verbunden: Ernest Hemingway. „Papa”, wie Hemingway in Key West genannt wurde, lebte und arbeitete mit Unterbrechungen von 1928 bis 1939 in Key West und verfasste in diesen elf Jahren die Jahrhundertromane „Die grünen Hügel Afrikas” (1935), „Haben und Nichthaben” (1937) und „Wem die Stunde schlägt” (1940) sowie einen Großteil seiner Kurzgeschichten, darunter „Schnee auf dem Kilimandjaro” (1936). Hemingways Hobbys, seine Eskapaden, seine Laster – sie alle nahmen ihren Anfang in Key West. Klar, dass ein Spaziergang auf Hemingways Spuren für viele Passagiere der CARNIVAL VICTORY zum Pflichtprogramm gehört.
Erstaunlich viele von ihnen sind daher auch schon um 6:30 Uhr auf den Beinen, als das Schiff noch fast im Dunkeln in Key West anlegt. Schnell zum Frühstücksbüffet, um bis zum Mittag etwas im Magen zu haben (pappige Brötchen und ein Multivitaminsaft, der genauso süß ist wie die alternative Limonade), und schon geht es zum Landgang auf Deck 0. Dort macht nicht nur der Bordfotograf seine obligatorischen Fotos, sondern drückt einem die Crew auch gleich noch einen Stapel Zettel mit Shopping-Tipps in die Hand. Denn auch das ist Key West: ein Shopping-Paradies, zumal an den Tagen, wo große Kreuzfahrtschiffe im Hafen liegen. Insofern unterscheidet sich die selbsternannte „Conch Republic” nicht von anderen Karibik-Inseln.
Doch das war nicht immer so. Als Ernest Hemingway hier eintraf, nannte er Key West „das St. Tropez der Armen”. Amerika unterlag der Prohibition, so dass der Schmuggel mit Alkohol aus Kuba florierte. Und mit ihm kamen Glückspiel und Prostitution; das als Außenposten der USA zudem chronisch klamme Key West genoss also nicht gerade den besten Ruf. 1935 zerstörte ferner ein Hurrikan die Bahnlinie zum Festland; der Highway, der als Ersatz gebaut wurde, war nicht vor 1938 fertig, und dann kam auch schon der Zweite Weltkrieg. Doch die abgeschiedene Lage, das subtropische Klima und der Mix aus amerikanischen und karibischen Einflüssen haben in Key West immer schon Touristen angezogen, so dass die Insel auch bei den großen amerikanischen Kreuzfahrtreedereien fest im Programm ist.
Als der britische Schauspieler und Reiseschriftsteller Michael Palin Key West 1999, im 100. Geburtsjahr von Ernest Hemingway, besuchte, stellte er fest, dass die Stadt eines der Dinge ist, die man in den USA nur sehr selten finde: eine Ortschaft, die man sich erlaufen kann. Und tatsächlich: Anders als in Miami (oder Chicago oder Los Angeles oder auch nur St. Louis) kann man hier tatsächlich spazieren gehen. Und plötzlich sind es nicht (wieder Michael Palin) die Florida Keys, sondern der Rest Amerikas, der einem abgelegen und unwirklich vorkommt. Über die Caroline Street wackeln gackernd ein paar Hühner (ein Erbe der Hahnenkämpfe, an denen in den 1930er Jahren auch Ernest Hemingway seinen Spaß hatte), und hinter Palmen liegt verschlafen das Audubon House. Der gleichnamige Ornithologe und Autor des Standardwerkes „Birds of America” hatte 1832 an dieser Stelle 18 neue Vogelspezies beschrieben und gezeichnet. Im Tiefschlaf befindet sich an diesem Morgen auch noch Sloppy Joe’s Bar, Hemingways Stammkneipe in der Duval Street. Seit 2006 steht das Gebäude unter Denkmalschutz, und noch immer gibt es dort den „Papa Doble”, einen extrastarken Cocktail aus Bacardi und Grapefruitsaft, der seinerzeit speziell für Hemingway kreiert wurde und für den „Papa” bei Sloppy Joe (eigentlich Joe Russell) lebenslang nur einen Freundschaftspreis bezahlen musste.
Vom Sloppy Joe’s sind es dann nur noch wenige Gehminuten bis zu jener Attraktion, die gegenüber dem alten Leuchtturm von Key West nicht nur Schriftsteller- und Buchhändlerherzen höherschlagen lässt: Hemingways Wohnhaus in der Whitehead Street, das seit 1964 Besuchern als Museum offensteht. 1931 war er hier mit seiner zweiten Frau Pauline eingezogen. Hier wuchsen seine Söhne Patrick und Gregory auf, hier entstand – neben diversen Romanen und Kurzgeschichten – der „Papa”-Mythos, und hier wohnte auch „Snow White”, die Stammhalterin jener polydaktilen (mehrzehigen) Katzen, die bis heute Haus und Grundstück bevölkern. Der Legende nach hatte Hemingway Snow White von einem Seemann geschenkt bekommen, da polydaktile Katzen Glück bringen sollen. (Angeblich können sie besser Mäuse fangen als normale Katzen). Der Katzennarr Hemingway ließ Snow White Nachwuchs bekommen, so dass über die Jahre hinweg in der Whitehead Street eine Population besonders berühmter Katzen mit sechs Zehen entstand: die Hemingway-Katzen. 40 bis 50 von ihnen leben heute dort und sind, so Michael Palin, die eigentliche Attraktion des unter Denkmalschutz stehenden Gebäudes. Wie zu Hemingways Zeiten tragen sie die Namen berühmter Personen und dürfen sich frei auf dem Grundstück bewegen (und auch gestreichelt werden, sofern sie das möchten). Und wann begegnet man schon mal innerhalb von nur wenigen Minuten Joe diMaggio, Hunter Thompson und Winston Churchill? Doch natürlich ist auch das Haus selbst sehenswert. Es mag nicht mehr so eingerichtet sein wie zu Hemingways Lebzeiten, aber die Artefakte, Möbel und Ausstellungsstücke geben einen guten Eindruck von Hemingways Leben in Key West. Genauso „Papa’s” Arbeitszimmer, das sich in einem Nebengebäude befindet und im Gegensatz zum Wohnhaus selber den Anschein erweckt, der große Autor wäre nur mal eben für einen Papa Doble im Sloppy Joe’s verschwunden. Und so ist das „Ernest Hemingway Home & Museum” wie ganz Key West ein Ort voller Magie. Auf der Terrasse schweift der Blick über Palmen hinweg zum Hafen (wo freilich der Schornstein der CARNIVAL VICTORY den des Dampfers nach Kuba ersetzt hat), hinter Glas sind jene Schreibmaschinen ausgestellt, auf denen Hemingway Weltliteratur verfasst hat, und im Garten streichen einem die Nachfahren jener Katzen um die Beine, die in den 1930er Jahren schon dem großen Autor Ablenkung und Zerstreuung geboten haben. Auch einen Buchladen gibt es in einem Anbau, der so ziemlich jedes Buch führt, das in letzter Zeit über oder jemals von Ernest Hemingway geschrieben worden ist. Das Hemingway Home ist ein Paradies für Papa-Fans, Leseratten und Katzenliebhaber gleichermaßen. Nur Howard Hughes bekommen wir nicht zu sehen. Howard ist die einzige Katze, die so scheu und ängstlich ist, dass sie ihr Leben im Keller des Hauses verbringt und sich erst nach draußen traut, wenn der letzte Besucher abends das Grundstück verlassen hat.

Fun, Fun, Fun
Der Weg zurück zum Schiff führt über die Front Street, wo das „Little White House” ebenfalls zu besichtigen ist. Elf Mal zwischen 1945 und 1953 zog sich allein US-Präsident Truman hierher zurück; hier wurde u. a. 1948 das „Key West Agreement” unterzeichnet, das die Trennung der US-Streitkräfte in Army, Navy und Air Force regelte. Doch auch direkt am Hafen wird Historie lebendig. Etwa im Shipwreck Treasures Museum, das die Geschichte der „Wrecker” nachzeichnet, jener Seeleute und Kapitäne, die aus den Strandungen von Segelschiffen in den tückischen Gewässern rund um Key West Kapital schlugen. Wer damit nichts anfangen kann, lässt am Mallory Square die Seele oder im Yachthafen die Beine im Wasser baumeln. Nur das berühmteste Schiff von Key West sucht man hier vergeblich: Hemingways PILAR, mit der er von der Navy Yard aus unzählige Male auf Hochseeangelausflüge in See gestochen ist. Seine geliebte PILAR hat Hemingway mitgenommen, als er 1939 von Key West nach Kuba übergesiedelt ist. Doch das ist eine andere Geschichte.
Im Jahr 2018 wird in Key West vor dem Betreten des Kreuzfahrtpiers tatsächlich die Bordkarte mit dem Reisepass abgeglichen, und als die CARNIVAL VICTORY den Hafen wenig später verlässt, begleitet uns wie schon in Miami ein Schnellboot der US Coast Guard, auf dem im Bug ein Mann mit Maschinengewehr postiert ist. Dabei steht den Passagieren der Sinn nach ganz weltlichen Dingen – „afternoon delight, cocktails and moonlit nights”. Allerdings sind es weniger die Beach Boys, die das Animationsteam diesmal als Begleitmusik für die Sail away-Party ausgewählt haben, sondern eine Mischung aus HipHop, Rap und Funk. Wieder beschwört Felipe bei jeder An- und Durchsage euphorisch den „Fun”, den wir alle an Bord haben sollen und die „one big family”, die wir Passagiere für die vier Tage an Bord bilden. Doch wer am Vormittag mehrere Stunden zu Fuß in der subtropischen Hitze von Key West unterwegs gewesen ist, zieht sich am Nachmittag erstmal für mindestens dieselbe Zeitspanne in die Kabine oder zumindest auf einen Liegestuhl auf dem Sonnendeck zurück.
Lange allein bleibt man auf einem amerikanischen Schiff jedoch nicht. Wo hierzulande im Fahrstuhl alle betreten auf den Boden schauen, um nicht angesprochen zu werden, gibt es auf der CARNIVAL VICTORY im Lift von Deck zu Deck kein Entrinnen: „Where are you from?”, „Are you having a good time?” Floskeln vielleicht, aber auch Ausdruck eines weltoffenen Kommunikationsbedürfnisses, von dem wir uns manchmal eine Scheibe abschneiden können. Typisch amerikanisch geht es am Abend auch in der Show zu. „Livin’ in America” heißt sie und steht ganz im Zeichen der verschiedenen Musikstile, die Amerika hervorgebracht hat, aber auch der einzelnen Bundesstaaten, die Chuck Berry, Ray Charles und andere besungen haben. Und natürlich gibt es wieder ein großes Hallo, wenn Felipe fragt: „Anybody here from …?” So gerät der Abend in der Caribbean Lounge wieder zu einer kleinen patriotischen Feierstunde, als „Memphis Tennessee”, „Georgia on my Mind” und „Philadelphia Freedom” erklingen. Und noch etwas fällt auf: Während in GEMA-Land jegliche Bild- und Tonaufnahmen während der Shows verboten sind und man gerne schon mal von einem aufmerksamen Besatzungsmitglied aufgefordert wird, das Handy auszuschalten, wenn man es nur in die Hand nimmt, heißt es auf der CARNIVAL VICTORY vorab: „Feel free to take pictures, videos, whatever you want, but no flashlights, please”. Es geht also auch anders.
Eine positive Überraschung ist auch das zweite Essen der Reise im Atlantic Restaurant. „Cruise Elegant” lautet heute die Kleiderempfehlung, und das Abendessen ist der Speisekarte zufolge nicht nur ein Dinner, sondern ein „Feast”. Als Vorspeise gibt es gebratene Jakobsmuscheln mit Risotto und als Hauptgang geröstete Ente; beide sind schlicht fantastisch. Wer die Carnival Cruise Line bisher mit Massenabfertigung und Mainstream assoziiert hat, wird spätestens bei Tisch im A la Carte-Restaurant eines Besseren belehrt. Aber der Abend ist noch jung. In den „Fun Times” ergeht die Aufforderung „Sing along with Jonathan”, auch das wollen wir uns einmal näher ansehen. Und tatsächlich: Auch Jonathan, der ein wenig aussieht wie ein Double von Michael Kessler, ist schlicht grandios. In der Irish Sea Piano Bar sitzt er am Klavier und sammelt nicht nur einfach Zettel mit Musikwünschen ein, sondern liefert ein komplettes Show-Programm im intimen Rahmen ab. Scherzt mit seinen Gästen, erzählt Geschichten rund um die Songs, animiert fröhlich zum Ordern von Drinks und macht spätestens beim unvermeidlichen „Piano Man” über dem kollektiven Gegröle und Geschunkel deutlich, wozu die geneigten Anwesenden hier sind – „to forget about life for a while”.
Von Spring Break dagegen weiter keine Spur, weder vor dem Abendessen, als sich das Pooldeck zum ersten Mal geleert hatte, noch jetzt zu fortgeschrittener Stunde, als die Dunkelheit eingesetzt hat. Stattdessen haben sich Teens und Twens zum „Dive-in Movie” im Seaside Theater am Pool eingefunden, wo sie sich brav mit einem Poolhandtuch in ihren Liegestuhl kuscheln und dabei Popcorn kauen. Es läuft „Thor – Ragnarok”, eine genauso wort- wie geräuschgewaltige Action-Fantasy-Melange, die mit germanischer Mythologie ungefähr so viel zu tun hat wie eine Carnival-Kreuzfahrt mit der klassischen Passagierschifffahrt. Doch das amerikanische Publikum liebt es. Aber wilde Cocktailpartys? Freizügige junge Damen? Frivole Wettbewerbe am Pool? Nichts dergleichen. Nur ein paar Unverbesserliche, die spät abends noch die Whirlpools belegen. Aber das ist ja erlaubt. Zumal im Badeanzug.

 

19606 01 Miami10 2018 Kai OrtelEine Weltkugel markiert den Beginn der Zufahrtsstraße zum Kreuzfahrtterminal in Miami, das sich immer noch als Kreuzfahrthauptstadt der Welt bezeichnet.

19606 02 Carnival Victory Balkonkabine03 2018 Kai OrtelIm Gegensatz zum Rest der CARNIVAL VICTORY ist Balkonkabine 8532 in geradezu moderaten Farbtönen gehalten.

19606 03 Carnival Victory Atrium08 2018 Kai OrtelDas imposante Atrium der CARNIVAL VICTORY mit seiner grünen Glasdecke ist der farbenfrohe Mittelpunkt des Schiffes.

19606 04 Carnival Victory Adriatic Lounge04 2018 Kai OrtelDie sieben Weltmeere bilden das Thema der Inneneinrichtung der CARNIVAL VICTORY. Die öffentlichen Räume an Bord tragen daher Namen wie Adriatic Lounge ...

19606 06 Carnival Victory Club Arctic Nightclub04 2018 Kai Ortel... Arctic Nightclub ...

19606 07 Carnival Victory Mediterranean Buffet Restaurant01 2018 Kai Ortel... und Mediterranean Buffet.

19606 08 Carnival Victory Atlantic Dining Room18 2018 Kai OrtelKurz vor Beginn der ersten Sitzung wartet der festlich eingedeckte Atlantic Dining Room auf die Passagiere.

19606 09 Carnival Victory Pacific Dining Room08 2018 Kai OrtelZweites Hauptrestaurant an Bord ist der Pacific Dining Room.

19606 10 Carnival Victory Caribbean Lounge07 2018 Kai OrtelDie mit untypischem Understatement so bezeichnete Caribbean Lounge ist das riesige Multifunktions-Theater im vorderen Teil des Schiffes.

19606 11 Miami47 2018 Kai OrtelAuslaufen aus Miami. Hinter den Hoteltürmen direkt am Meer liegt Miami Beach.

19606 12 Carnival Victory Oberdeck und Norwegian Sky Miami01 2018 Kai OrtelAn jedem Wochentag verlassen die Kreuzfahrtschiffe am Abend kurz nacheinander Dodge Island in Miami. Hier passiert die CARNIVAL VICTORY die NORWEGIAN SKY.19606 13 Miami76 2018 Kai OrtelBlick vom Sonnendeck der CARNIVAL VICTORY auf Miami Beach.

19606 16 Key West Abfahrt11 2018 Kai OrtelDie Zeiten, als die Florida Keys das Armenhaus der USA waren, sind lange vorbei. Heute liegen in Key West Luxusyachten im Hafen.

19606 18 Key West83 Hemingway House 2018 Kai OrtelHemingways Wohnhaus in Key West ist äußerlich unscheinbar, trotzdem wird „907 Whitehead Street” tagsüber zur Pilgerstätte für Hemingway-Fans.

19606 17 Key West62 2018 Kai OrtelBlick von Hemingways Wohnhaus auf den alten Leuchtturm von Key West.19606 19 Carnival Victory Key West36 2018 Kai OrtelDie CARNIVAL VICTORY ist am Pier von Key West seit Jahren ein gewohnter Anblick. In die Beschaulichkeit des Yachthafens einfügen vermag sich das Schiff allerdings nicht.