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Liebe Kreuzfahrer, liebe Seeleute,
liebe Freunde auf See und an Land!

Ich stehe an der Reling und denke nach. Oder richtiger: denke vor: Na klar weiß ich, dass auf Hoher See immer tiefere Gedanken gedacht werden als im Nachrichtenstrudel an Land. Ein Strudel, der sie alle erfasst. Jeden Tag und jede Minute. Arme und Reiche, Doofe und Schlaue, Junge und Alte, Schwarze, Weiße und Gelbe, in Amerika und Asien, in Europa, Afrika, Australien. Auf unserem großen, ziemlich klein gewordenen Globus hat das Chatten und Twittern die Menschheit erfasst. Überall das gleiche Dauer-Zucken der Display-Daumen. Von Kiel bis Kalkutta, von München bis Moskau, von Bremen bis Brisbane – fast überall sind alle mit allen und mit irgendwem speziellen verbunden, ob buddies oder business, ob nah oder fern, ob englisch, russisch, chinesisch, französisch, deutsch oder in einer der 250 aktuellen Internet-Sprachen, und alle (zur Zeit etwa fünf Milliarden) Smartphones auf dem Globus leuchten und blinken dauerbeschäftigt, senden und empfangen Apps und Tweets und Messages, Selfies und Fotos und News. Wir erleben den Anfang der weltweiten Digitalen Revolution. Schon in 10 Jahren wird unser Planet ein völlig anderer sein.

Kaum einer schaut noch auf. Die Umwelt ist austauschbar geworden. Sie rennen gegen Laternenpfähle und Autos und oft gegeneinander, der Blick haftet am Display, das Hirn kommuniziert kaum noch mit einem Gegenüber, einem lebendigen Menschen, sondern mit Figuren im Netz, Adressdaten im Irgendwo und Nirgendwo. Und – immer häufiger – mit Robotern aller Art. Sogar am Steuer im Auto kann diese Sucht nicht innehalten. Viele Unfälle hat es schon gegeben. Aber die Sucht ist stärker als alle Sicherheitsbedenken. (Und die Navi-Stimme tut ja auch Gutes im Verkehr). Lieber tot, als nicht online. Das allerschlimmste ist, wenn es mal kein Netz gibt. Wenn WLAN irgendwo mal fehlt. Wenn die Kommunikation unterbrochen ist. Und sei es nur für zehn Minuten. Rund fünf Milliarden Hirne dauerkommunizieren auf unserem Erdball, und täglich werden es mehr und mehr. Ist das nur digitale Vernetzung der Massen oder schon so eine Art von Web-Religion? Die Göttin der Welt heißt Data, ohne Data kein Leben, und Data ist wichtiger für die Menschheit als Buddha oder Christus oder Allah es je gewesen sind. Nichts funktioniert mehr ohne Data, und sogar aus Bill Gates ist Bill Dates geworden …

Ob wir das bedauern oder begrüßen, ist völlig egal, denn Zeitläufte kann der Einzelmensch nicht lenken, selbst Armeen und ganze Völker können es nicht, und auch ermächtigte Macht-Haber haben nicht die geringste Macht über Vorgänge wie die jetzt angelaufene neue Phase unserer menschlichen Evolution. Auch Götter nicht. Der Prophet Mohammed hat das Nahost-Gemetzel weder prophezeit noch je verhindert. Und wenn Jesus Christus jetzt mal auf seine irdische Heimat schaute, würde er das jahrhundertelange Versagen seiner Lehren erkennen. Überhaupt ein Wunder, dass sich die diversen Glaubenslehren so lange gehalten haben. Die Wissenschaft weiß doch längst, wie Erde und Universum entstanden sind, und mit sieben Schöpfungstagen oder Adam und Eva hat das alles nichts zu tun, aber dennoch haben die rund sechstausend Generationen seit unserem kalendarischen Jahre null all diese stories und Märchen blindgläubig heruntergebetet, noch immer gibt es „Gläubige” in Kirchen und Moscheen und Tempeln. „Dein ist das Reich und die Macht und die Herrlichkeit in Ewigkeit … ” Wie lange dauert denn eine Ewigkeit? Wie lange können sich Psalmen und Suren halten angesichts von Wissenschaft und Forschung? Sogar religiöser Terror tobt immer weiter, als seien wir stehengeblieben im Dreißigjährigen Krieg.

Nein, das Internet ist weder eine neue Religion noch ein Wunder. Es ist aber mehr als nur Technologie. Es verändert das Leben und die künftige Existenz des Menschen. Globale Unterschiede werden nivelliert und novelliert. Bildung kann von jedem und jeder jederzeit gegoogelt werden. Qualifikationen werden sich komplett verändern. Arbeitsweisen, Arbeitsorte auch. Den heute noch herkömmlichen Begriff „Arbeit” wird es schon in wenigen Jahren so gar nicht mehr geben. Roboter werden Muskelkraft und Denkweisen und menschliche Anwesenheit ersetzen. Roboter haben keine Migräne und kriegen keine Kinder. Roboter arbeiten Tag und Nacht und kennen keine Arbeitszeiten.

Aber diese digitale Welt wird auch sehr verletzlich. Stromausfälle, Hackerhaie, Invasoren im Netz können ganze Staaten und Systeme lahmlegen oder hinterhältig missprogrammieren. Und unsere Lebensweisen und Gewohnheiten werden sich eklatant verändern. Schon heute frage ich mich, wieso täglich Millionen „Arbeitnehmer” in aller Welt zur Arbeit fahren, mit Autos, Bussen, Bahnen, riesige Abgas-Schwaden verursachen, Ressourcen vergeuden, viele Stunden Zeit verlieren, und dabei doch das allermeiste ihrer Arbeit genauso gut zuhause erledigen könnten. Kontrollierbar und viel konzentrierter und effizienter als in all den Kontoren oder Großraumbüros der Innenstädte. Aber wie die Lemminge rollen sie jeden Morgen in irgendwelche Cities und abends wieder zurück. Auf diesem Gebiet kann die Digitalisierung zum Segen werden.

Wenn die Agenda 2030 kommt, wird Gerhard Schröder wahrscheinlich kein russisches Öl mehr durch die Ostsee-Pipeline leiten. Oder Erdgas von Sibirien nach Salzgitter pusten. Auch seine Agenda 2010 ist dann längst Geschichte. Wenn er dann noch atmet, wird er milde lächeln. Denn die Industrielandschaften der Erde werden völlig andere sein: Vollautomatisch gesteuerte Produktionsanlagen ohne „Arbeiter” im herkömmlichen Sinne. Die gibt es ja schon heute kaum noch irgendwo in Deutschland. Die „Arbeiterpartei” SPD ist schon jetzt Reliquie. Sie wurde am 24. September 2017 von der Überzahl der Andersarbeiter abgewählt. Die Andersarbeiter stehen nicht mehr am Fließband, sie sitzen vor Bildschirmen und Displays.

Und – Roboter wählen nicht und brauchen keine Urne. Roboter werden programmiert. Und auch der Mensch, sehr absehbar, wird voll durchprogrammiert. Seine Entstehung („Elite aus der Retorte”) und seine Denkweisen, seine Bedürfnisse und Verhaltensmuster, alles wird programmiert. Roboter werden Busfahrer, Friseure und Soldaten sein, Maurer, Gärtner, Bäckermeister. Roboterinnen werden Verkäuferinnen, Krankenschwestern und Erzieherinnen. Im Schulunterricht hat ja schon längst das tablet die Schiefertafel abgelöst. Schulbücher gibt’s nicht mehr, alles Wissen angelt sich der Schüler aus dem Netz. Und schon bieten erste Tanzschulen gutaussehende Roboter-Tanzlehrer an. Man kann Foxtrott, Walzer und Tango in den Armen eines taktsicheren Roboters erlernen, der alle Schritte beherrscht und „friendly bouncing” zeigt, wie es geht. Immer freundlich und zuvorkommend und ohne jeden Schweißgeruch. – Und übrigens: auch Schiffsstewards werden schon jetzt auf einigen Schiffen durch Roboter ersetzt. „Was möchten Sie trinken?” hat mich einer angeschnarrt. Die Reederei nennt das Fortschritt. Ich nenne es Schwachsinn. Wie finden SIE das, lieber Kreuzfahrt-Passagier?

Auch das Militär steckt in einer tiefgreifenden Revolution. Die Kriegsschauplätze der Zukunft kennen keine Heere und auch keine Fronten mehr. Feldwebel brauchen wir nicht länger, auch keine Feld-Marschälle. Denn es wird auch keine Schlacht-Felder mehr geben. Die Opfer „fallen” auch nicht mehr, sie werden aus weiter Ferne zielgenau erlegt. Irrtümer allerdings nicht ausgeschlossen. „Kollateralschaden” wird diese Art von Mord, pardon: Entleben genannt. Das tut dann irgendeinem Politiker leid. Trauermiene im TV, Gedenkgottesdienst im Dom. Oder auch nicht, wenn die Hinterbliebenen keine Wähler sind. „Ich hatt’ einen Kameraden” hat sich erledigt. „Er ging an meiner Seite” – da geht schon längst niemand mehr. Auch Uniformen, Stahlhelme und Kampfstiefel werden obsolet. Moderner Krieg braucht keine Requisiten.

Denn Leutnant Drohne hat das Kommando übernommen: Ein Mann am Bildschirm mit dem „joystick” in der Hand spielt Schicksal. Es ist wie Kriegsspiel mit echten Menschen. Echten Spielern, echten Opfern. Aus sicherer Entfernung, ganz bequem und im Pullover, lenkt der Schütze die Granate ins Fadenkreuz. „Digitale Zielführung” heißt das militärisch. Schon jetzt werden so die amerikanischen Drohnen auf Ziele in Pakistan und Afghanistan aus Ramstein in Rheinland-Pfalz gesteuert. Und ob man in zehn, zwanzig Jahren überhaupt noch ballistisch ballert, glaube ich kaum. Das Ausradieren unerwünschter Bevölkerungen kann man eleganter und auch effizienter lösen. Bakteriell, mit Laserstrahlen oder atomar. Oder mit ferngesteuerten Schockwellen aus dem Super-Taser. Giftgas gilt als unanständig. Cholerabakterien sind viel anständiger. Dauert auch ein bisschen länger, bis sie wirken. Die Menschen haben mehr davon. Im Jemen wird das gerade ausprobiert …

Übrigens: Auch Schiffe sollen demnächst vollautomatisch über die Meere gesteuert werden. Von Navigationszentralen an Land. Nicht nur U-Boote, Fregatten und Korvetten, nein, auch Container- oder Kreuzfahrtschiffe. Ob das wirklich so gesellig wird, wenn dann eine Robotrone statt des Captain’s Dinners die Roboroulade aus der Computerküche servieren wird? „Nimm mich mit, Robotän auf die Reise!” „Auch Roboter haben eine Heimat”. „Robby, lass das Träumen”. Viele Texte müssen umgeschrieben werden. Roboter sind nicht blond. Aber das ließe sich wohl hinkriegen. Auch die Schiffssicherheit – ganz ernst! – wird schon mit Robotern geprobt. Die entsprechenden Versuche sind in vollem Gange. Fragen Sie mal nach bei der Hamburger Schiffbauversuchsanstalt. Und bei der Seeberufsgenossenschaft. Das Ganze ist viel näher als Sie schmunzelnd glauben.

„Die Revolution frisst ihre Kinder”. Aber auch die stärksten Roboter werden uns das Salz unserer Meere nicht nehmen können, das Rauschen der Wellen und den Wind im Gesicht. Vieles werden sie uns nehmen, vieles ganz gewiss auch geben. Wir werden sie ja nicht mehr miterleben, unsere vollautomatische computergesteuerte Bestattung durch Begräbnisroboter. Bis dahin lasst uns lächeln und bleiben wie Kinder, auch wenn der Reisepass etwas anderes erzählt.

Herzlich, Ihr Herbert Fricke