SeereisenMagazin Logo klein 347 65WELCOME-ASTOR · AUSGABE 3/2018hr

18309 17 P1010430 Sonniger Empfang Kai OrtelSonniger Empfang für die ASTOR: Auf der Kurzkreuzfahrt von Tilbury nach Bremerhaven herrscht strahlender Sonnenschein.
Fotos: Kai Ortel, Berlin

Kai Ortel

Welcome Europe, MS ASTOR
TransOcean Kreuzfahrten startet mit Schnupper-
Reise in die neue Saison

Zwischen Oktober und April kreuzt die ASTOR für Cruise and Maritime Voyages auf der Südhalbkugel, wo das Schiff fest in australischer Hand ist. Während der Frühlings- und Sommermonate jedoch fährt die ehemalige FEDOR DOSTOEVSKIY unter Regie der deutschen Cruise and Maritime-Tochter TransOcean Kreuzfahrten. Die diesjährige Saison begann mit einer Schnupper-Reise von Tilbury nach Bremerhaven.
Wir verbinden den 24 Stunden-Törn der ASTOR mit einem Vorprogramm in London. Diesmal jedoch nicht mit dem hinlänglich bekannten, das aus Buckingham Palace, Westminster Cathedral und Big Ben besteht, sondern bei dem ein eher unbekannter Teil der englischen Metropole im Mittelpunkt steht: das Südufer der Themse jenseits der Tower Bridge. Hierzu buchen wir uns in einem Apartment in Bermondsey ein. War dieser Stadtteil zusammen mit dem benachbarten Rotherhithe im 17. Jahrhundert noch eine Art Gartenstadt weitab verrufener Bezirke wie St. Giles oder Newgate, verkam er spätestens im 19. Jahrhundert mit der zunehmenden Industrialisierung Londons zu einem Slum armer Hafen-, Bahn- und Landarbeiter, denen Charles Dickens in seinem Roman „Oliver Twist” ein literarisches Denkmal gesetzt hat. Hier befanden sich die Surrey Commercial Docks, im 19. Jahrhundert eines der größten zusammenhängenden Hafen-, Schleusen- und Docksysteme der Welt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die meisten davon zugeschüttet und bebaut, nur das fast 700 Meter lange Greenland Dock (und das kleinere South Dock nebenan) zeugt noch heute vom vergangenen imperialen Ruhm des „Port of London”. Dessen historische Lagerhäuser fielen zwar weitgehend den deutschen Bombardierungen des Zweiten Weltkriegs zum Opfer, die aktuelle Bebauung ahmt die vergangene aber nach. Wo einst Walfänger, Holzhändler und sogar die Kanada-Dampfer der Cunard Line festmachten, eilen heute Geschäftsleute im Nadelstreifenanzug zu den Bahnhöfen Surrey Quays und Canada Water, drehen Jogger ihre morgendlichen Runden oder schieben Mütter ihre Kinderwagen an Gassen vorbei, die nach den Docks und Werften von damals benannt sind – Swedish Quay, Brunswick Quay, Baltic Quay. Das alte London, es lebt hier weiter.
Unser Spaziergang durch das London jenseits der Tower Bridge (wo alle gängigen Stadtpläne völlig zu unrecht enden) führt uns anschließend am Southwark Park entlang zu den King’s Stairs Gardens, einem kleinen Park direkt am Themse-Ufer. Doch der Blick über die Themse ist zunächst nur ein kurzer, denn die Attraktion dieses Fleckens der britischen Hauptstadt befindet sich, wie so oft in London, unter uns. Es ist dies der Thames Tunnel, der erste jemals gebaute Fußgängertunnel, der einen großen Fluss unterquerte. Er verbindet Rotherhithe mit dem gegenüberliegenden Stadtteil Wapping und blickt wie auch das Greenland Dock auf eine bewegte Geschichte zurück. 1825 begonnen und erst 1843 unter der Leitung der Gebrüder Marc und Isambard Kingdom Brunel fertig gestellt, war er zwar ein technisches Meisterwerk, finanziell und konzeptionell aber ein Reinfall. Für Pferdefuhrwerke nicht breit genug, blieb er lange Zeit ein reiner Fußgängertunnel, der weniger Touristen, dafür aber umso mehr Taschendiebe, Prostituierte und Kriminelle anzog. 1869 fuhren schließlich die ersten Züge der East London Railway durch das enge Gewölbe, und dabei ist es bis heute geblieben; im Jahr 2018 ist der Thames Tunnel nicht nur Teil der London Overground zwischen Clapham Junction und Highbury, sondern das alte Engine House in Rotherhithe auch zum Brunel Museum umfunktioniert, in dem die Geschichte des Tunnels lebendig wird. Wem der Name Brunel an dieser Stelle bekannt vorkommt, liegt übrigens richtig. Isambard Kingdom Brunel entwarf auch die ersten großen Transatlantik-Dampfschiffe GREAT WESTERN (1838), GREAT BRITAIN (1843) und GREAT EASTERN (1852), die ihrer Zeit damals weit voraus waren, die die Entwicklung der Übersee-Passagierschifffahrt aber maßgeblich geprägt haben.
Vom Brunel Museum führt der Thames Path, ein Fußgängerweg mit regelmäßigem Flussblick, vorbei am altehrwürdigen Mayflower Pub zum Concordia Wharf, zum St. Saviour’s Dock und zum Butler’s Wharf. Hier standen im viktorianischen England die größten Lagerhäuser des Landes; erst in den 1980er und -90er Jahren wurden sie zu begehrten Wohn- und Investitionsobjekten umgebaut. Am Butler’s Wharf, ehedem das größte Tee-Lagerhaus der Welt, beginnt dann schließlich das London der Touristen, denn am Fuß des Gebäudes steht die berühmte Tower Bridge.

Abfahrt mit Schwierigkeiten
Die soll uns aber heute nur dazu dienen, zügig zum Bahnhof Fenchurch Street zu gelangen, dem Ausgangspunkt der Vorortbahn nach Tilbury, wo in wenigen Stunden die ASTOR ablegt. Doch auch in Tilbury gibt es vor der maritimen Geschichte Englands kein Entkommen. Eine Themse-Fähre zum Nachbarort Gravesend gab es hier bereits im 16. Jahrhundert; seine Blüte erlebte Tilbury jedoch 400 Jahre später. Vor allem P&O und Orient Lines nutzten den Hafen nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg als Ausgangspunkt ihrer Schiffsverbindungen nach Übersee, als deren Liner für die Londoner Docks zu groß geworden waren. Auch das heutige „London International Cruise Terminal” stammt aus jener Zeit. Nur das Schiff, das an diesem sonnigen Aprilvormittag am altehrwürdigen „Tilbury Landing Stage” festgemacht hat, hat mit all dem so gar nichts mehr zu tun. Die ASTOR wurde 1987 auf südafrikanische Rechnung in Kiel gebaut, gehörte lange Zeit der sowjetischen Staatsreederei, fuhr unter Hammer- und Sichel-Flagge für die westdeutschen Reiseveranstalter Transocean Tours und Neckermann Seereisen und gehört seit 2014 der griechischen Global Cruise Line. Die wiederum ist Hauptanteilseignerin an Cruise and Maritime Voyages in Purfleet (nahe Tilbury) bzw. Transocean Kreuzfahrten in Offenbach und setzt die ASTOR im Winter auf dem australischen und im Sommer auf dem deutschen Markt ein. Das Ganze unter Bahama-Flagge und betrieben von einer multinationalen Crew unter dem Kommando eines ukrainischen Kapitäns. Dergleichen hätte sich selbst ein Isambard Kingdom Brunel wohl nicht träumen lassen.
Stürmische See hingegen ist im Jahr 2018 mitunter noch genau wie zu Brunels Zeiten ein Grund für Schiffsverspätungen. Auch die ASTOR hat es nämlich erwischt; ein Sturm in der Biskaya hat ihre pünktliche Ankunft in Tilbury heute verhindert. Demzufolge verzögert sich auch die Einschiffung der Kurzreise-Passagiere, was jedoch ein guter Grund ist, die Mitreisenden schon einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Ausschweifende Partys darf man in den nächsten 24 Stunden demnach eher nicht erwarten. Das ASTOR-Publikum ist reiferen Alters, überwiegend paarweise angereist und in vielen Fällen auch nicht zum ersten Mal auf dem Schiff. Schade nur, dass draußen ganz untypisch für England im April die Sonne scheint, so muss der Willkommenscocktail auf dem Pooldeck erst einmal noch warten. Denn zur eigentlichen Abfahrtszeit um 13:00 Uhr gehen noch immer Passagiere an Bord. Erst als eine halbe Stunde später die Rettungsübung beginnt, legt die ASTOR ab. Ausgerechnet. Nachdem die Rettungswesten wieder verstaut sind, ist Tilbury daher längst hinter der Themse-Biegung verschwunden, und auch das Restaurant hat plötzlich zu, als man sich nach dem Ablegen stärken möchte. Der Beginn der Reise ist also ein wenig holprig, doch da das schöne Wetter am Nachmittag anhält und der Willkommenssekt auf dem Pooldeck tatsächlich aufs Haus geht, sehen die meisten Passagiere gnädig darüber hinweg. Auch ist in meinem Fall die gebuchte Innenkabine 323 bei der Einschiffung zu Suite 108 geworden, da will man natürlich auch nicht meckern. Im Gegenteil.

An Bord
Als die ASTOR an Backbord Southend-on-Sea hinter sich gelassen und die offene Nordsee erreicht hat, begrüßt Kreuzfahrtdirektor André Sultan-Sade interessierte Neu-Passagiere wie auch Repeater um 16:00 Uhr zur Wilkommensveranstaltung in der Astor Lounge. Zunächst möchte er wissen, wer von den Anwesenden schon einmal mit der ASTOR gefahren und warum er wiedergekommen ist. „Das ist hier gemütlicher”, antwortet ein Herr in der ersten Reihe und vergleicht „sein” Schiff damit mit der Flotte jener Megaliner, deren Passagierkapazität mittlerweile im oberen vierstelligen Bereich angekommen ist. Und Recht hat er. 578 Gäste fasst sein Schiff, wobei es auf der aktuellen Reise mit 260 Passagieren nicht einmal halbvoll ist. Und die dürfen zumindest heute in den beiden Restaurants (Waldorf und Übersee, beide achtern) in einer Sitzung speisen. Niemand ist also im Stress, weil die nächsten Gäste schon vor der Tür warten, während man gerade das Dessert serviert bekommt. Und noch etwas macht die ASTOR aus: „Wir sind ein Destinationsschiff”, erzählt der Kreuzfahrtdirektor nicht ohne Stolz. Davon zeugen schon die vielen Hafenplaketten, die überall im Schiff verteilt sind. Keine Frage – die ASTOR ist weit herumgekommen in ihren 31 Dienstjahren. Auch 2019/20 steht wieder eine Weltreise auf ihrem Programm, schließlich kann sie bequem solche Häfen ansteuern, die ihren großen Pendants verwehrt sind. Da darf das Bordprogramm auch vergleichsweise unaufgeregt ausfallen. „Das Diamond Duo spielt klassische Musik” heißt es für heute, 20:00 Uhr, im Tagesprogramm und „Das Astor-Show-Ensemble heißt sie mit einem bunten Showprogramm willkommen” (21:30 Uhr).
Zuvor führt jedoch der Kreuzfahrtdirektor die Schar interessierter Passagiere höchstpersönlich durch das Schiff. Erzählt dabei von der Taufe, bei der es so windig war, dass der Hut der Taufpatin dabei ins Wasser geweht worden ist; davon, dass die maritim-gediegene Inneneinrichtung des Captain’s Club seinerzeit vom ersten Kapitän der ASTOR persönlich ausgewählt worden und seitdem praktisch nicht angetastet worden ist; und davon, dass man für die Bordbibliothek leider Öffnungszeiten habe einführen müssen – „Denn unsere Bücher haben Beine bekommen”. Auf dem Promenadendeck geht es dann die beiden Arkaden entlang; die eine führt an Backbord und die andere an Steuerbord an der Boutique und am Captain’s Club vorbei. Hier befinden sich auch große Porträts der russischen Dichter Alexander Puschkin und Leo Tolstoi – Relikte aus jener Zeit, als die ASTOR unter dem Namen FEDOR DOSTOEVSKIY noch in sowjetischem Besitz war.
Mit der Zeit gegangen ist die ASTOR aber auch: So hat man die beiden Salons „Admiral” und „Commodore” zu kleinen, aber feinen Spezialitätenrestaurants umgewandelt, in denen man unabhängig von den Sitzungen in den beiden Hauptrestaurants italienisch bzw. asiatisch speisen kann. Und dies ohne Aufpreis, nur reservieren sollte man vorab – damit auf den längeren Reisen alle Passagiere einmal in den exklusiven Genuss kommen können. Darüber hinaus führt die ASTOR mittlerweile eine ganze Flotte Fahrräder mit. Die darf man, ebenfalls kostenlos, ausleihen, wenn man einen Hafen mit dem Rad anstatt zu Fuß erkunden möchte. Auch einen Blick auf den Innenpool dürfen wir im Rahmen des Bordrundgangs werfen sowie auf den angrenzenden Wellness-Bereich. Tief unten auf dem Caribic-Deck (Deck 3) befinden sich beide, und auch sie erfreuen sich beim deutschen Publikum traditionell großer Beliebtheit.

Unter Deutschen
Letzteres hat es sich vor dem Abendessen bei noch immer strahlender Frühlingssonne auf dem Pooldeck gemütlich gemacht. Um 17:45 Uhr hat die ASTOR gerade den letzten Themse-Lotsen mit dem traditionellen „Dreimal lang” verabschiedet, da stehen auf den Tischen nicht, wie man vielleicht vermuten würde, Cocktail-Gläschen, sondern Bierkrüge. Die ASTOR ist ein deutsches Schiff, jedenfalls zwischen April und Oktober. Auf dem englischsprachigen Markt wird sie erst wieder mit der Überführungsfahrt von Tilbury nach Adelaide am 15.10. beworben, bis dahin fährt die ASTOR unter der Flagge von TransOcean Kreuzfahrten. Seit 2013 geht das schon so, man ist also mittlerweile geübt, was den halbjährlichen Wechsel so mancher Abläufe und Gewohnheiten an Bord betrifft. Für die nächsten sechs Monate hört man nun jedenfalls erstmal wieder kaum noch englische Stimmen an Bord, auch die Durchsagen erfolgen nur noch auf Deutsch. Und wenn ab heute um 19:00 Uhr jeden Abend die Bord-Restaurants öffnen, kann man mit ziemlicher Sicherheit vorhersagen, dass dort aufgrund der wartenden Menschentrauben schon ab 18:30 Uhr kein Durchkommen mehr sein wird.
Auch ein Crew-Wechsel hat heute in Tilbury stattgefunden; seitdem spricht auch ein Großteil der Besatzung wieder jenes liebenswerte Deutsch mit russischem bzw. osteuropäischem Akzent, das seit den Zeiten einer ESTONIA und einer ODESSA zum Markenzeichen der ehemaligen Generalagentur der sowjetischen Baltic Shipping Company in Deutschland gehört. Dass die Passagiere „ihre” ASTOR dabei schon mal mit AIDA oder einer COLOR FANTASY vergleichen, gehört aber auch dazu, der Blick über den eigenen Tellerrand will schließlich erlaubt sein. Nur der einsame Oceania-Beutel über einem der Liegestühle passt nicht so recht ins Bild. Von einer MARINA oder RIVIERA ist die ASTOR dann nämlich in Sachen Luxus und Service doch noch ein ganzes Stück entfernt. (Douglas Ward gibt ihr in seiner aktuellen Ausgabe des Berlitz Cruising and Cruise Ships-Handbuches drei Sterne, genauso wie der ALBATROS von Phoenix Reisen und der HAMBURG von Plantours.) Das zeigt sich bereits beim Abendessen, wo das richtige Eingießen des bestellten Weizenbiers erst noch gelernt werden will und wo auch das Guinness des Tischnachbarn eher in dessen Glas gekippt als liebevoll eingeschenkt wird. Zuvor hatte mich meine Kabinenstewardess Svitlana bei meinem Gang zum Restaurant noch gefragt, ob sie nun meine Kabine sauber machen dürfe (was ich bejahte). Dabei warf sie allerdings einen ziemlich despektierlichen Blick auf meine Schuhe, deren Anblick nach den beiden Gewaltmärschen durch London gestern und heute zugegebenermaßen in einem starken Kontrast zu der Duftwolke aus Deo, Eau de Toilette und Nivea gestanden haben dürfte, die sich da gerade an ihr vorbei zum Abendessen begab …
Zu Beginn der abendlichen Show begrüßt Kapitän Andrej Lisnychy persönlich seine Passagiere mit einer kleinen Rede in deutscher Sprache – beides auf Kreuzfahrtschiffen des 21. Jahrhunderts auch keine Selbstverständlichkeit mehr. Doch genauso wie Kreuzfahrtdirektor André, der zwölf Jahre zuvor schon mit Karl Moik und Tony Marshall auf ebendieser Bühne gestanden hatte, ist auch Kapitän Lisnychy der ASTOR auf besondere Weise verbunden. Als er 1997 noch Offiziersanwärter war, war sie sein erstes Schiff. Weihnachten 2016, knapp 20 Jahre später, fügte es sich dann, dass er nach diversen Stationen auf anderen Schiffen und bei anderen Reedereien das Kommando über jene ASTOR angeboten kam, „sein” erstes Schiff. Ein schöneres Weihnachtsgeschenk hätte es für ihn damals nicht geben können.
Die Show ist ein buntes Potpourri quer durch alle Musik- und Tanzstile, bei der man darüber hinaus immer „nah dran” am Geschehen ist, während man auf den Megalinern unserer Tage meistens entweder eine Säule vor sich oder nur eine minimale Beinfreiheit hat und das Geschehen unten auf der Bühne nur erahnen kann. Auch die Violinistin ist großartig, und die Bord-Band ebenso. Die Decken an Bord mögen niedrig sein, so dass man auf der ASTOR eher keine waghalsigen Trapezkünste erwarten sollte; mit Temperament und Abwechslungsreichtum macht das Ensemble eventuelle Limitationen in Sachen Platz und Technik aber mehr als wett. Außerdem lüftet Kreuzfahrtdirektor André nach der Show wie versprochen das Geheimnis um jene Ansammlung rätselhafter Gebilde, die wir heute Nachmittag in der Themse-Mündung an Backbord passiert hatten und die von weitem wie Vogelhäuser aussahen. Es handelte sich dabei um die Maunsell Army Forts, Luftabwehr-Stützpunkte im Flachwasser der Nordsee, welche die britische Regierung in aller Eile während des Zweiten Weltkriegs hat bauen lassen, um deutsche Bomber abzufangen.
Besagte Nordsee ist heute übrigens ein „Ententeich”, wie es André ausdrückt. Einem geruhsamen Schlaf steht damit nichts im Wege, und weil es so schön ist in Suite 108, lassen wir heute Nacht einfach mal die Vorhänge auf und uns morgen früh von der Morgensonne wecken.

Ein Prosit der Gemütlichkeit
Ein unschlagbarer Vorteil deutscher Schiffe ist das Frühstück. Auf der ASTOR gibt es kein pappiges Toastbrot, keinen lauwarmen Kaffee aus dem Automaten und kein Dosenobst, sondern frisch gebackene Vollkornbrötchen, heißen Kaffee und Tee aus der Kanne sowie frisch zubereiteten Obstsalat. Im Gegensatz zu amerikanischen und englischen Passagieren lieben die Deutschen ihr Frühstück, und am opulenten Büffet im Waldorf Restaurant werden sie nicht enttäuscht. Auch ein English Breakfast steht aber zur Wahl, auch wenn hier bei der Qualität des Schinkens und der Würstchen noch Luft nach oben ist. Kaffee und Tee werden dafür sehr aufmerksam nach fast jedem Schluck nachgeschenkt, und auch der Sekt geht zu früher Stunde wieder aufs Haus.
Doch das ist noch nicht alles. Denn für 11:00 Uhr steht im Bordprogramm: „Ihr Kapitän gibt einen aus!” Und richtig. Wer das Frühstück auf dem Pooldeck zünftig fortsetzen will, ist am Vormittag zum Frühschoppen eingeladen. „Gute Stimmung mit dem besten Bier der Welt – dem Freibier” verspricht das Tagesprogramm, und diese Einladung schlägt natürlich fast niemand an Bord aus. Dass das Lucky Duo dazu „Joana” von Roland Kaiser und andere deutsche 80er Jahre-Schlager mit starkem osteuropäischem Akzent intoniert, sollten Sie allerdings mögen, ansonsten ist die ASTOR nicht Ihr Schiff. Selbiges gilt auch für „Ein Prosit der Gemütlichkeit”, das Kreuzfahrtdirektor André am Pool stilecht in Lederhosen zum Besten gibt. Es folgt, dann nicht mehr ganz so stilecht, „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins”, doch dem ASTOR-Publikum gefällt auch dies. Die Stimmung ist jedenfalls prächtig an Bord, zumal uns der Wettergott auch heute Vormittag wieder äußerst wohl gesonnen ist. Man sitzt mit Decke auf dem Schoß und Buch bzw. Bierglas in der Hand im Liegestuhl und schippert mit gemächlichen 15 Knoten Bremerhaven entgegen. Es gibt schlechtere Möglichkeiten, einen Samstagvormittag im April zu verbringen.
Davon weitgehend unbemerkt, wird die ASTOR unter Deck weiter von einem australischen in ein deutsches Schiff verwandelt. In den Shops müssen sämtliche Preisschilder ausgetauscht werden, in der Werkstatt wird das TransOcean-Logo für den Schornstein auf Hochglanz poliert, und auch die Uhr an der Rezeption steht noch auf „Freemantle Time”. Der Hotel Manager bereitet derweil sein Büro für die Übergabe vor. Joao Luis de Sousa, seit einem halben Jahr an Bord, hat heute seinen letzten Tag, sein deutscher Kollege Maximilian Klassen übernimmt. Beide empfangen mich aber dankenswerterweise trotzdem für eine kleine maritime Plauderstunde und sind voll des Lobes für Schiff und Besatzung. Wie die MARCO POLO, mit der die ASTOR nicht nur die Zugehörigkeit zu Cruise and Maritime Voyages gemeinsam hat, sondern auch die Vergangenheit bei Transocean Tours, könne die ehemalige FEDOR DOSTOEVSKIY auf eine hohe Zahl loyaler Stammgäste aus Deutschland zählen, die immer wieder an Bord zurückkehren. Schließlich ist die 1987 in Kiel gebaute ASTOR wie sie „Made in Germany”. Passagiere und Crew bilden daher auf so mancher Kreuzfahrt eine große Familie, was sich schon mal darin äußern kann, dass der eine oder andere Gast darauf beharrt, dies sei „seine Kabine”, „sein Tisch” oder sogar „sein Kellner”. Kontinuität wird daher groß geschrieben im Hause Cruise and Maritime Voyages. Bei der Crew versucht man die Fluktuation so gering wie möglich zu halten, damit die Repeater „ihre” ASTOR bei jeder neuen Reise sofort wiedererkennen. Das macht es dem Schiff andererseits natürlich nicht eben leicht, neue Fans zu gewinnen. Die ASTOR-Passagiere sind vielmehr mit ihrem Schiff gealtert, das Durchschnittsalter liegt unter TransOcean-Regie inzwischen irgendwo zwischen 60 und 70. Kein Wunder, dass sich neben dem Reiseveranstalter Troll Tours dieses Jahr auch der Reise-Service der alten Dame SPD dazu entschlossen hat, eine Ostsee-Kreuzfahrt der ASTOR exklusiv zu vermarkten. Auch die Partei stellt auf ihrer Website heraus, dass sich die ASTOR „als klassisches Kreuzfahrtschiff weitab vom großen Massenmarkt-Tourismus bewegt und uns auf ihren Reiserouten in Häfen bringen kann, die den riesigen Megalinern verwehrt sind.”
Das sah vor kurzem in Australien noch ganz anders aus, erklärt der Hoteldirektor mit einem Augenzwinkern. Dort blieb schon mal das halbe Schiff an Bord, um Party zu machen, wenn der Hafen, den die ASTOR gerade anlief, nicht viel Aufregendes zu bieten hatte. Das dürfte sich nächstes Jahr erst recht nicht ändern, wenn die merklich größere VASCO DA GAMA zur Cruise and Maritime-Flotte hinzustößt und die Reisen der ASTOR ergänzt. Womit sich auch für Hoteldirektor Joao Luis de Sousa ein Kreis schließt. Sein Kreuzfahrt-Leben hatte 1988 auf der ersten VASCO DA GAMA begonnen – einem portugiesischen Schiff unter der Regie des Transocean Tours-Konkurrenten Neckermann Seereisen. 1990 suchte Neckermann Ersatz für die betagte VASCO DA GAMA und wurde in der FEDOR DOSTOEVSKIY fündig, der heutigen ASTOR, der er seitdem treu geblieben ist.

Nach Bremerhaven
Um Punkt 12:00 Uhr meldet sich Kapitän Lisnychy nach dem traditionellen Läuten der Schiffsglocke in makellosem Englisch mit seiner täglichen Durchsage von der Brücke. Die See sei „very smooth” und das Wetter auch ansonsten herrlich, allerdings würden wir Bremerhaven heute trotzdem erst mit etwa zwei Stunden Verspätung gegen 17:00 Uhr erreichen. Grund hierfür sei neben der Verspätung von gestern Nachmittag eine starke Gegenströmung aus der Deutschen Bucht, gegen die sein Schiff regelrecht ankämpfen müsse. Die Passagiere nehmen dies aber gelassen hin, schließlich ist Wochenende, und es ist trocken und fast sommerlich warm an Deck. Außerdem stellt Kreuzfahrtdirektor André spontan ein Zusatzprogramm auf die Beine, das aus einer Filmvorführung in der Astor Lounge um 14:00 Uhr und einem Quiz im Captain’s Club eine halbe Stunde später besteht. Not macht eben erfinderisch.
Der Film ist ausgerechnet „Notting Hill”, den der Autor vor 19 Jahren an exakt derselben Stelle gesehen hat – im Bordkino der Englandfähre auf der Fahrt nach Deutschland. Diese hat damals noch jeden zweiten Tag Kurztrips wie den hier beschriebenen möglich gemacht. Aber die Zeiten ändern sich. Mit besagter Englandfähre gemein hat die ASTOR allerdings jene weitläufigen Decksflächen, die man auf den riesigen Kreuzfahrtschiffen moderner Bauart vergeblich sucht. Dazu zählen allein drei Decks an den Seiten des Schiffes, wo neben dem Bootsdeck (Deck 7) und dem Sonnendeck (Deck 9) auch auf dem Brückendeck (Deck 8) noch ein Gang nach achtern führt. Nur das kleine Freideck direkt unter der Kommandobrücke ist nicht öffentlich zugänglich; es ist den Passagieren der drei teuersten Suiten 101 bis 103 vorbehalten. Dafür kann man auf dem Brückendeck der Besatzung bei der Arbeit über die Schulter schauen, denn die Brückennock ist eine offene. An diesem Vormittag toben hier allerdings nur die Kinder des Kapitäns herum, die dieser zusammen mit seiner Frau auf die Reise nach Bremerhaven mitgenommen hat. Auch eine Form familiärer Atmosphäre!
Auch achtern hat die zuletzt 2010 aufwändig für 16 Millionen € renovierte ASTOR so gar nichts gemeinsam mit Kreuzfahrtschiffen wie der NORWEGIAN BLISS, die wir heute Nacht auf ihrer Ablieferungsfahrt von Papenburg via Bremerhaven nach Southampton passiert haben. Am Pool (noch ohne Wasser) riecht es z. B. nach altem Teak-Holz – ein Odeur, wie es nur Passagierschiffe alter Bauart versprühen. Dafür ist die Lüftung des Schornsteins laut, und auch die Vibrationen sind im hinteren Teil des Schiffes beträchtlich, was sich leider auch im Waldorf Restaurant bemerkbar macht. Gleiches gilt für die Klimaanlage in der Kabine, welche die ganze Reise unabstellbar monoton vor sich hin sirrt. Da hilft auch die dreisprachige Ausgabe des Neuen Testaments nichts, das in bester Tradition der christlichen Seefahrt zur Bettlektüre in der Schublade des Schreibtisches bereit liegt. Gegen 14:00 Uhr kommen uns das erste Containerschiff und der erste Weserlotse aus Bremerhaven entgegen. Nun ist es nicht mehr weit. Auch der Leuchtturm Roter Sand ist wenig später ein untrügliches Zeichen dafür, dass unsere Reise dem Ende entgegen geht. Bis dahin genießen die Passagiere den Kurztrip noch mit Lektüre und Small Talk an Deck. Herrlich. Was hätten die nur alle gemacht, wenn wir heute Dauerregen gehabt hätten? Vielleicht einen Bummel durch die Kabinenkorridore; die dort an den Wänden angebrachten Bilder mit historischen Silhouetten europäischer Städte sind jedenfalls jedes für sich eine eingehende Betrachtung wert. Genauso wie die Seekarte an der Rezeption, auf der die Stationen jeder Reise eingetragen werden und die am Ende jeder Kreuzfahrt traditionell zugunsten der Besatzung versteigert wird. Doch auch Schlemmen ist am frühen Nachmittag noch einmal angesagt, denn zur Mittagszeit öffnen die Restaurants noch einmal ihre Pforten. Um kurz nach 16:00 Uhr schließlich legt die ASTOR an der Columbuskaje an, ihrer Heimat für die nächsten sechs Monate.
Reedereien wie AIDA, TUI Cruises und andere mögen den deutschen Kreuzfahrtmarkt in den letzten Jahren regelrecht umgekrempelt haben. Schiffe wie die ASTOR gehören jedoch auch weiterhin ebenso dazu. Sie mag weniger groß sein und weniger jugendlich, macht das aber nicht zuletzt mit einer familiären Atmosphäre und einer herzlichen Crew wett. Und ist für die nächsten sechs Monate wieder einmal fest in deutscher Hand. Welcome Europe, MS ASTOR! www.transocean.de

Technische Daten und Steckbrief MS ASTOR
Bauwerft: Howaldtswerke-Deutsche Werft AG, Kiel; Im Dienst: seit dem 31.01.1987; Ex-Namen: ASTOR (bis 10/1988), FEDOR DOSTOEVSKIY (bis 12/1995); Flagge: Bahamas; Heimathafen: Nassau; Tonnage: 20.704 BRZ; Länge: 176,26 Meter; Breite: 22,61 Meter; Tiefgang: 6,10 Meter; Passagiere: 570 (578); Kabinen: 287 (199 außen/88 innen); Besatzung: 250; Leistung: 15.400 kW; Höchstgeschwindigkeit: 22 Knoten.

18309 01 London08 2018 Kai OrtelDas Greenland Dock in Rotherhithe ist das einzige große Hafenbecken des alten Port of London, das am Südufer der Themse weitgehend im Ursprungszustand belassen worden ist.

18309 02 London37 2018 Kai OrtelBlick über die Themse: Der Stadtteil Wapping am Nordufer des Flusses lässt noch das alte London des viktorianischen England erahnen.

18309 05 London89 2018 Kai OrtelAm St. Saviour’s Dock nahe der Tower Bridge sind die alten Lagerhäuser zu begehrten Wohnobjekten umgewandelt worden.

18309 06 London98 2018 Kai OrtelAm Butler’s Wharf, wo einst Tee umgeschlagen wurde, befindet sich heute am Fuße der Tower Bridge eine beliebte Flaniermeile.

18309 07 Astor Tilbury05 2018 Kai OrtelBei schönster Frühlingssonne hat die ASTOR an der berühmten Tilbury Landing Stage festgemacht.

18309 08 Themse12 2018 Kai OrtelAm Nachmittag passiert die ASTOR den London Gateway Port, der seit 2013 von vielen großen Containerschiffen angelaufen wird.

18309 Suite 09 P1010160 Kai OrtelASTOR-Suite Nr. 108 lässt in Punkto Größe und Ausstattung kaum Wünsche offen.

18309 10 P1010323 Captains Club Kai OrtelDer vornehme Captain’s Club der ASTOR kann mit gediegen-maritimer Einrichtung glänzen.

18309 11 P1010291 Innenpool Kai OrtelDer Innenpool der ASTOR befindet sich zusammen mit den Wellness-Einrichtungen des Schiffes auf dem Caribic Deck unten im Schiff.

18309 12 P1010205 Pooldeck Kai OrtelNachmittagsstimmung auf dem Pooldeck. Im Vergleich zu modernen Kreuzfahrtschiffen verfügt die ASTOR über
außergewöhnlich großzügige offene Außendeckflächen.

18309 13 P1010402 Waldotf Kai OrtelIm vornehmen Waldorf-Restaurant speisen die Passagiere abends in der Regel in zwei Sitzungen.

18309 14 P1010282 Astor Lounge Kai OrtelDie gemütliche Astor Lounge im Vorschiff wird für Tanz- und Musikveranstaltungen aller Art genutzt.

18309 15 P1010399 Backwaren Kai OrtelDie Qual der Wahl: Am reichhaltigen Frühstücksbüffet der ASTOR.

18309 16 P1010408Aussendeck Kai OrtelEin Traum für Nostalgiker: Das breite Bootsdeck der ASTOR an einem sonnigen Frühlingsmorgen.

18309 18 P1010415 Hanse Bar Kai OrtelIn der Hanse Bar wird an so manchem ASTOR-Seetag das beliebte Freibier ausgeschenkt.