SeereisenMagazin Logo klein 347 65JENISSEJ · AUSGABE 3/2018hr

18315 PSW Jenissej MS ANTON TSCHECHOW 32MS ANTON TSCHECHOW läuft in Krasnojarsk ein. Fotos: Dr. Peer Schmidt-Walther, Stralsund


Dr. Peer Schmidt-Walther

Auf nach Sibirien!
Durchs „schlafende Land” zwischen GULAG und Eismeer

Metallisch schlagende Achsen, hell klirrende Teegläser, schwankende Schachfiguren. Die 500 Meter lange Wagenschlange poltert bei Krasnojarsk über die Brücke. Tief unten ein erstarrtes Flussbett: der zugefrorene Jenissej, mächtigster Fluss Sibiriens.
Die Phantasie wird bei diesem Anblick beflügelt: Wie wär’s, wenn man die 12,5-Millionen-Quadratkilometer-Weite nicht nur von West nach Ost mit der „Transsib” erfährt, sondern auch gen Norden per Schiff? Damals, 1976, 9.000 Kilometer unterwegs auf der längsten und berühmtesten Eisenbahnstrecke der Welt, reifte zwar schon ein solcher Wunsch, aber er blieb über Jahre unerfüllbar. „Sibir”, wie die Tataren ihr „schlafendes Land” einst nannten, war Sperrgebiet. Nur in wenigen Städten und am Baikalsee durfte man aussteigen, „wohlbehütet” vom staatlichen Reisebüro „Intourist”.
Mit der Wende 1990 kamen Lockerungen, nicht mehr nur für Abenteurer, sondern auch Urlaubsreisende. Ein von Kälte und Isolation geprägtes Image verlor allmählich an Bedeutung.
1992 startete die erste Charterfahrt für Devisentouristen in den hohen Norden. Erst in der nächsten Saison stellte sich ökonomischer Erfolg ein. Dieser Teil Sibiriens war kein „weißer Fleck” mehr auf der touristischen Landkarte.

Zylmann Welcome Aboard 470Im „grünen Meer”
Umgestürzte Baumgiganten recken ihre Wurzeln in die von Mücken schwirrende Luft. Wegloses Urwalddickicht ringsum. Im sumpfigen Boden entdecken wir frische Tierfährten. Aus dem weichen Moospolster leuchten Pilzkappen in allen Farben. Ein Paradies für Sammler. Ohrenbetäubende Stille. Da knackt es im Unterholz. Wir erstarren, halten den Atem an: etwa ein Bär, Luchs oder Elch? Alles möglich hier, mitten im unendlichen „grünen Meer” der sibirischen Taiga. Auf leisen Sohlen treten wir vorsichtshalber den Rückzug an, schleichen hinunter zum Jenissej, der silbrig durch die Blätter blitzt. Verlockende Düfte steigen in die Nase. Wildhüter haben für die Taiga-Wanderer eine Fischsuppe gekocht. Plötzlich ein tiefes Dröhnen – ANTON TSCHECHOW, schwimmendes Domizil für zwölf Flusstage, ruft. Unser „Transsib”-Traum ist Wirklichkeit geworden, Jahrzehnte später.
„Wir Sibirier”, doziert Reiseleiterin Mila am Ufer vor ihrer internationalen Gästeschar, „haben eine geradezu mythische Beziehung zu diesem Wald, der in vielen unserer Erzählungen verherrlicht wird. Er symbolisiert die Freiheit, und seine Bewohner sind wahre Helden.” Auch heute noch geht von der Taiga eine Faszination aus. Mit fünf Millionen Quadratkilometern ist sie größer als Indien. 25 Prozent der weltweiten Holzvorräte wachsen hier. „Wo endet er?” fragte schon vor über hundert Jahren der russische Dichter Anton Tschechow und gab selbst die Antwort: „Nur die Zugvögel wissen es.”

Gigantomanie unter alten Symbolen
Um einen Hauch dieser Weite zu erfassen, bietet sich eine Flussreise auf dem Jenissej geradezu an. Mit 4.860 Kilometern, wovon 2.860 schiffbar sind, ist er von allen seinen sibirischen Strom-Kollegen am längsten. Nicht umsonst nannten ihn die Ureinwohner „Joanessi”, „großes Wasser”. Anton Tschechow war einer seiner glühendsten Bewunderer. 1890 schrieb er: „In meinem ganzen Leben habe ich keinen großartigeren Fluss gesehen.” Der Strom wurde von den Kosaken zur Eroberung und Besiedlung genutzt, denn: „Wer die Flüsse beherrscht, beherrscht auch das ganze Land.” Heute dieseln überwiegend kräftige Schubverbände mit Holz, Öl und Containern über die Wasserstraße. An den Schiffsschornsteinen glänzen vielfach noch die blank gewienerten Sowjet-Symbole Hammer und Sichel. Große Seeschiffe dampfen bis Igarka, das rund 700 Kilometer von der Jenissej-Mündung entfernt liegt. Beim Eismeer-Hafen Dickson am legendären Nordsibirischen Seeweg öffnet sie sich zu einem 50 Kilometer breiten Trichter.
15 museumsreife, aber liebevoll gepflegte Fahrgastschiffe, die meisten in den 50er-Jahren auf DDR-Werften an der Elbe gebaut, wie zum Beispiel die KAPITAN RODIN, pendeln regelmäßig zwischen Küste und Binnenland. Sie transportieren Menschen und Versorgungsgüter in die entlegenen Siedlungen. So war’s auch schon vor rund 130 Jahren. Flugmöglichkeiten sind dünn gesät und teuer. Wenn der Jenissej 120 bis 200 Tage zugefroren ist, wird er zur Straße umfunktioniert. Dann übernehmen LKW den Job der im Eis festliegenden Schiffe.

Toleranz und Liebe
Von Krasnojarsk legt im kurzen Sommer zwischen Juni und September das von Viking Catering AG in Basel gemanagte 3.000-BRZ-Kreuzfahrtschiff ANTON TSCHECHOW zu elf- bis zwölftägigen Reisen ab. Der 2.200-Kilometer-Kurs führt süd- und nordgehend etwa parallel zum 90. Längengrad: über den Polarkreis nach Ust Port und Dudinka auf 70 Grad nördlicher Breite, knapp vor der ständig eisbedeckten arktischen Kara-See. Mit maximal 184 Passagieren in bequemen Zweibettkabinen samt Dusche und Toilette. Davon können die Flussanwohner nur träumen. Im Bord-„Reise-ABC” heißt es dazu, dass dies keine Luxuskreuzfahrt sei und man ein Land im Umbruch bereise. „Bitte haben Sie Verständnis dafür und bringen Sie die nötige Toleranz mit.”
Die sommerliche Reise auf dem Jenissej kontrastiert zu einer Wolga-Fahrt: kaum Spuren von großer kunsthistorischer Bedeutung, dafür aber Natur pur – Flora und Fauna in ungeahnter Fülle. Dazu unendliche Weite und Einsamkeit. Bei warmen bis heißen Temperaturen (Bademöglichkeiten inklusiv), die allerdings auch schnell umschlagen können. Völlig neue Erfahrungen für die meisten Reisenden, von denen jeder seine eigenen Motive hat. Eddi aus dem österreichischen Burgenland ist schon zwanzig Mal im Land gewesen und beherrscht die Sprache: „Russland ist meine zweite Heimat – weil ich Russland so liebe. Warum, das weiß ich nicht.” Bei der Schweizerin Irma liegen die Wurzeln in ihrer Kindheit: „Musik, Märchen und Landschaft haben mich schon immer fasziniert.”

Bislang kein Reiseführer
Wir lernen auch Respekt zu haben vor dem „Schlafenden Land”, in dem Deutschland 35 Mal Platz finden würde und größer ist als jedes Land der Erde, aber nur 25 Millionen Einwohner zählt. Für Ausländer nach wie vor geheimnisumwittert und mit Stereotypen behaftet. Hier gehen heute noch die Uhren anders, was in einem sibirischen Sprichwort zum Ausdruck kommt: „100 Kilometer sind keine Entfernung, 100 Jahre kein Alter und 100 Gramm Wodka kein Alkohol.” Über Sibirien, ein riesiges Gebiet von 7.000 Kilometer Länge und 3.500 Kilometer Breite mit allein 53.000 Flüssen und über einer Million Seen, gäbe es einige Bände zu füllen. Dennoch existiert bislang kein umfassender Reiseführer über ein Drittel des asiatischen Festlandes. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die Tourismus- und Verkehrsinfrastruktur nach wie vor völlig unterentwickelt ist. So muss zum Beispiel die Basisversorgung der ANTON TSCHECHOW, dem einzigen Kreuzfahrtschiff auf dem Jenissej, vor Saisonstart per Container-LKW von St. Petersburg nach Krasnojarsk gekarrt werden: elf Tonnen Lebensmittel. „Die abenteuerliche Fahrt durch den ‚Wilden Osten’ Russlands dauert fast zwei Wochen”, weiß Exkursionsleiter Oleg Juskov, ein waschechter Sibirier. Gemüse und Fisch kaufen Hotel-Chef Christoph Pöschl und Küchen-Chef Michael Spieldiener, beide Österreicher, am Fluss frisch dazu. „So hat auch die Bevölkerung ihren bescheidenen Anteil am Tourismus”, meinen sie.

Freiwillig verbannt
Im alten Kosakendorf Worogowo mit seinen charakteristischen Nordbauten begegnen wir auf der Straße einem Sibirien-Deutschen. Soziale Einblicke in den harten Alltag „Dobre dien, guten Tag!” stellt sich Artur Schmidt zweisprachig vor. Deutsch schreiben und lesen kann der 62-Jährige nicht mehr. Seine Familie wurde von Stalins Schergen 1940 aus Saratow an der Wolga hierher verbannt. Noch ein paar deutsche Familien leben in dem 2000-Seelen-Dorf von Ackerbau, Viehwirtschaft und Fischerei, „aber deutsche Bücher oder Zeitungen gibt es nicht, auch keinen Deutsch-Unterricht in der elfklassigen Schule.”
Artur lebt allein in einer windschiefen Blockhütte, die schon bis zu den Fensterrahmen im aufgetauten Dauerfrostboden versackt ist. Der Rentner bekommt 1.200 Rubel im Monat, umgerechnet rund 50 Euro. „Nu, es reicht gerade so zum Leben”, lächelt der ehemalige Kolchos-Arbeiter zufrieden aus zahnlosem Mund, „aber weg will ich hier nicht mehr, das ist meine Heimat.” Und nach Deutschland? „An euer Leben dort könnte ich mich wohl nicht mehr gewöhnen.” In seinem Gärtchen baut er Kartoffeln und Gurken an. Dafür bleiben nur zehn Wochen Zeit. Von Oktober bis März herrscht nämlich Väterchen Frost. Mit bis zu 60 und mehr grimmigen Minusgraden, Dunkelheit und zwei Meter hohem Schnee. Im Frühjahr zur Eisschmelze steht nicht nur Worogowo zu 95 Prozent unter Wasser. „Wenn die meterdicken Schollen zusammengeschoben werden und die Wassermassen stauen, schützt uns auch der natürliche Zwölf-Meter-Wall nicht mehr”, erklärt Artur. Verrostete Frachtkähne und ausgeblichene Baumstämme, auf dem Hochufer gestrandet, unterstreichen das nachdrücklich.
Die Geschichte von Artur fällt nicht unter die „Sibirischen Märchen”, die Mila abends in der Panorama-Lounge erzählt. Von „süßen sibirischen Träumen”, wie sie am Schluss des Tagesprogramms gewünscht werden, ist man in Worogowo ebenso weit weg wie von dem, was im fernen Moskau passiert. Die kleine Welt am „großen Wasser” bleibt davon unberührt, wie eh und je. Der Blick ist eher rückwärts gerichtet – auf die alte „Kosakenherrlichkeit”, anzuschauen im lokalen Museum.

Russische Seele
Nach kräftezehrenden Taigaausflügen und Rundgängen wie zum Beispiel durch die denkmalgeschützte „Goldgräberstadt” Jenissejsk, Russisch-Kursen und Diskussionsrunden, Film-, Volkslieder-, Spaß- und Spieleabenden ist Seh-Pause angesagt. MS ANTON TSCHECHOW gleitet beruhigend durch das Waldmeer. Stewardess Nina, Deutsch- und Englisch-Studentin in Krasnojarsk wie manche ihrer Kolleginnen an Bord, gerät ins Schwärmen: „Es kommt mir vor, als würde ich mich selbst entdecken, wenn ich vom Schiff aus die Landschaft vorbeiziehen sehe. Man fühlt die Weite und Endlosigkeit des Landes. Es ist, als ob man plötzlich versteht, woher die berühmte russische Seele stammt.”
Dunkle Wolken weichen einem makellos blauen Himmel. Im Nu füllt sich das weitläufige Oberdeck mit Sonnenhungrigen. Badehosen und Bikinis dominieren. Bis die Kasatschinsker Stromschnellen auftauchen. Da schnüren schroffe Klippen den gewaltigen Strom auf nur 70 Meter Breite bei 3,20 Meter Tiefe ein. Mit 18 Kilometern pro Stunde schießt er dahin. Zwischen unglaublichen 14.500 und 23.900 Kubikmeter Wasser wälzen sich pro Sekunde durch das Nadelöhr. Schwerfällige Frachter werden von einem bereit liegenden starken Vorspannschlepper durch das Wellenchaos gezerrt.
Dramatisch auch die Landschaftsszenerie bei Kurja nahe der einmündenden Steinernen Tunguska, wo sich der von steilen Felsufern gesäumte Jenissej noch einmal richtig austobt. Hier, an einem der schönsten Flussabschnitte, „wird das Wasser von oben nach unten gekehrt”, wie die Sibirier sagen.

Schwarz-Weiß-Gegensätze
Nachts durchdröhnt plötzlich das Schiffstyphon die Stille. Kapitän Ivan Timofejevichs Signal von der Brücke, dass ANTON TSCHECHOW auf 66,33 Grad nördlicher Breite den Polarkreis überquert hat. Neptun und Gefolge „kommen an Bord”. Anlass für ein rauschendes, feucht-fröhliches Fest im „Land der weißen Nächte und schwarzen Tage”.
Szenenwechsel am nächsten Morgen. Die Sonne täuscht, denn wer von Sibirien spricht, denkt in erster Linie an das finstere GULAG. Alexander Solschenizyn, selbst zehn Jahre in den „Gefängnissen ohne Gitter” eingesperrt, beschrieb die Greueltaten im unheimlichen Inselreich von Terror und Gewalt, wodurch er die Welt aufrüttelte. Millionen, meist Unschuldige, verschwanden in zaristischen und kommunistischen Straflagern, die auch den Jenissej säumten. Tuchuransk war bis 1953, dem Todesjahr von Josef Stalin, ein Zentrum für Haft und Verbannung. Auch der spätere Diktator verbrachte in der Nähe vier Jahre. Bis heute unverständlich, dass er trotz seiner schlimmen Erfahrungen nicht davor zurückschreckte, unzählige Menschen zur Zwangsarbeit zu verbannen und ermorden zu lassen. „Ab nach Sibirien!” lautete lakonisch das millionenfache Todesurteil.

GULAG per Hubschrauber
Für eine Reihe von ANTON TSCHECHOW-Passagiere hat dieser Satz eine völlig andere Bedeutung bekommen. Unweit des Schiffes heben sie in Mi-8-Hubschraubern vom Strand ab und knattern im 180-Kilometer-Tempo über den breit dahinströmenden Jenissej nach Westen. Tief unten blitzen aus der versumpften Waldtundra, Übergangsform zur baumlosen Kältesteppe, tausende von Seen. Nach einer Stunde Wildnisflug kreist die Maschine über einer Ansammlung verfallener Hütten. Endstation Straflager, aber mit Rückflugticket. Erschreckende Einblicke in vergangene, aber immer noch gegenwärtige Gruselzeiten erwarten uns: baufällige Schlafbaracken im KZ-Stil, protzige Kommandantur, dunkle Einzelzellen mit Gefangeneninschriften. Gekritzel unter dem Guckloch einer Stahltür: „Camera obscura 1949 – 1953”. Makabrer Humor. Ein verbeulter, angelaufener Trinkbecher aus Aluminium wird in Ehrfurcht von Hand zu Hand gereicht: Wer mag den wohl benutzt haben? Auch liegen gebliebene Stiefel, Möbel und Bestecke geben Fragen auf. Geschichte live. Über Stacheldraht-Fußangeln stolpert die Kolonne zum Hubschrauber. Nachdenklich-still.
Andere, denen die knallharte GULAG-Realität nicht ins Urlaubs-Konzept passt, starten lieber zu einem Rundflug über das malerische Tal der Unteren Tunguska. Der Weitblick aus schneebefleckten 1.000 Meter Höhe ist ihnen allemal erholsamer. Auch wenn viele Bäume schon gelb sind. Keineswegs, weil der Herbst schon vor der Tür steht. Ursache dieser kränklichen Färbung sind vielmehr die ungefilterten Abgase des nahen Industrie-Riesen Norilsk. Nickel und 16 andere Metalle werden dort gefördert und verarbeitet. Nicht nur die Bäume sind durch diese ökologische Belastung gefährdet, sondern das gesamte Leben im hohen Norden.

Im arktischen Niemandsland
Das Eismeer schickt uns einen kühlen Hauch entgegen. Zwangspause vor dem Hafen von Dudinka, der Hauptstadt des Autonomen Bezirks Taimyr. Ein Boot kommt längsseits. Uniformierte steigen über: Zollgrenz- und Passkontrolle! Und das mitten in Russland – verstehe das, wer will. Die „einleuchtende” Begründung: hinter dem Hafen beginne arktisches Niemandsland oder anders ausgedrückt Sperrgebiet. Drei „unauffällige” Herren in Zivil begleiten uns – „zu unserer Sicherheit”, wie es unter der Hand heißt. Die „neue Zeit” ist anscheinend noch nicht eingezogen. Wir dampfen noch eine Nacht nach Norden.
Weit und breit kein Baum mehr: Tundra, die unwirtlichste Vegetationszone, die das Gebiet nördlich des Polarkreises bedeckt. Nur noch Moose, Flechten und Zwergbüsche haben hier eine kümmerliche Überlebenschance bei wenig Sonne, kurzer Wachstumsperiode und tief gefrorenem Dauerfrostboden. Doch hier leben Menschen. Zum Beispiel in Ust Port. Früher wurde hier das über den Jenissej geflößte Holz auf Seeschiffe verladen. Diese Rolle hat Dudinka übernommen. Feste Kaianlagen und Kräne erleichtern das Geschäft.

Ust Port, letzter Vorposten
Ausbooten und Landgang. Am Strand Kinder, hellhäutige von russischen, dunkelhäutige von Nomaden. Sie strecken die Hände aus, um Kugelschreiber, Rubel oder Süßigkeiten zu ergattern. Im Gras schnarchen ein paar Gestalten in hohen Gummistiefeln. Fischer, wie wir hören, die nach drei Tagen Fangreise ihren Lohn in Wodka umgesetzt haben. Einziger Trost in einer desolaten Umgebung: tiefgründig von schweren Fahrzeugen zerwühlte Wege und auf Jahre zerstörte Tundra, metertiefe Pfützen, sich hoch auftürmende Schrottberge. „Nu ladna, macht nichts”, lautet die stereotyp-resignierte Antwort, „der Schnee deckt doch alles neun Monate lang zu”. Ein bullernder Dieselgenerator, aus dessen Leitung permanent Öl in den Boden sickert, verteilt seine rußschwarzen Abgaswolken über das 500-Seelen-Dorf und überlagert die Stille. Hin und wieder kläfft ein Polarhund. Pelzfarm und Fischkonservenfabrik sind mangels Wirtschaftlichkeit dicht. Die Menschen versuchen sich als jagende und fischende Selbstversorger durchzubringen. Reißenden Absatz bei ANTON TSCHECHOW-Passagieren finden kostbare Polarfuchs-Felle, nur 13 Dollar pro Stück. Für manchen im Ort ein lukrativer Nebenverdienst. Nicht nur bei Naturschützern umstritten.

Sibirische Perspektiven
Wolodja hingegen fährt einen geländegängigen Laster. Er ist freiwillig mit seiner Familie aus Omsk im tiefen Süden Sibiriens in den hohen Norden gezogen, trotz härtester Lebensbedingungen bei bis zu minus 70 Grad im Winter. „Hier verdiene ich mit 2.500 Rubeln im Monat doppelt so viel wie zu Hause, allerdings kostet mich ein Kindergartenplatz auch 400 Rubel. Früher war das kostenlos. Am Ende bleibt aber immer noch genug übrig.” In drei Jahren will er zurück in den Süden Sibiriens, um sich von dem Ersparten die lang ersehnte Eigentumswohnung und ein Auto zu kaufen.
Er führe zwar ein besseres Leben als zu Sowjetzeiten, aber eins beunruhige ihn: „Ich hätte gern mehr Sicherheit. In diesem Land weiß man nie, was morgen passiert. Wir leben wie auf einem Vulkan.” Und seine Frau Nina ergänzt: „Die Geduld der Leute wird überstrapaziert, die Situation ist langsam hoffnungslos.” Aber sie weiß auch, dass zehn Jahre nicht genug sind, um das System zu ändern.
Weit draußen und entfernt von Wolodjas und Ninas Sorgen ziehen Nenzen, Ureinwohner der Region, mit ihren Rentier-Herden durch die karge Tundra. Wir steuern per Luftsprung eine Familie an, die Eigentümer von 1000 Tieren ist. Traditionelle Zelte sind ihre Behausung. Ein Blick nach drinnen offenbart ärmlichste Verhältnisse: in der Mitte ein Öfchen, ringsherum Decken auf dem Boden, das ist alles. Aber sie sind stolz auf ihre Unabhängigkeit und deshalb zufrieden mit dem Wanderleben. Schulpflichtige Kinder lernen im Internat von Ust Port. Die Kleinen im Natur-Camp sind begeistert von den mitgebrachten Spielsachen, die Großen nehmen scheu lächelnd eine Schlittenladung Lebensmittel in Empfang. Auch der mit allen Facetten des Landes vertraute Exkursionsleiter Oleg freut sich, damit ein bisschen Licht in die Tundra-Einöde gebracht zu haben.
Während des letzten Abendessens versinkt die Sonne dunstverschleiert hinter dem weiten Fluss-Spiegel. Fast „programmgemäß”. ANTON TSCHECHOW hat längst wieder Kurs auf den Ausschifffungshafen Dudinka genommen. Ruth und Horst Kröning, die beiden weitgereisten und spontanen Berliner, sind am Ende dieses Tages nachdenklicher geworden, aber auch begeistert von Landschaft, Menschen und Schiff: „Der Jenissej – ein absolutes Kontrastprogramm, das uns tief beeindruckt hat. Man muss das einfach gesehen und erlebt haben!” Also: auf nach Sibirien!

MS ANTON TSCHECHOW
Gebaut 1978 bei der Österreichische Schiffswerft Linz-Korneuburg/Donau; Renovierung 1993; 3.000 BRZ; 115,6 Meter Länge; 16,5 Meter Breite; 13 Meter Höhe; 2,80 Meter Tiefgang; 3 russische Maschinen à 900 PS; 3 Verstellpropeller; Geschwindigkeit 15 Knoten; Bunkerkapazität 180 Tonnen (Treibstoffverbrauch während einer 21-Tage-Reise Krasnojarsk-Ust Port-Krasnojarsk: 120 Tonnen); West-Management; Nautiker: Russen, Schlüsselpositionen im Hotel- und Restaurantbereich: Österreicher und Russen; 184 Passagiere auf 3 Decks in 72 komfortablen Doppel-, 22 Einzel- und 6 Dreibettkabinen (alle haben Dusche/WC/Klimaanlage, große Fenster und sind außen gelegen); eine Aufbesserung der Innenausstattung ist vorgesehen; 2 Restaurants (eine Sitzung), Hallenbad, Leseraum, Sonnendeck, Souvenir-Shop, Schiffsarzt, Friseur, Sauna, Wäscherei, kein Lift; Bordsprachen: Deutsch, Englisch, Russisch; begleitete Landausflüge entsprechend; Winterstandort: Trockendock Krasnojarsk (Überholung, Schutz vor Eis); Schwesterschiff LEO TOLSTOI (Einsatzgebiet: russische Flüsse und Kanäle).

Viermonatige Überführungsfahrt
Spektakulär war die Jungfernreise unter Kapitän Ivan Timofejevich (seit Indienststellung an Bord und nach wie vor stolzer Träger des sowjetischen Ordens „Verdienter Held der Arbeit”) von der Bauwerft zum Einsatzgebiet: donauabwärts durchs Schwarze Meer (in Rumänien Komplettierung der Aufbauten), über die russischen Flüsse und Kanäle nach St. Petersburg zur Ostsee, Nordsee, durch den Atlantik ums Nordkap in die Barents- und Kara-See (Sibirischer Seeweg) mit Endstation Krasnojarsk/Jenissej. Bei diesem Härtetest hatte die ANTON TSCHECHOW auch ihre Eignung als Seeschiff unter Beweis gestellt.
Die ANTON TSCHECHOW fährt heute auf der Wolga – nach einer weiteren spektakulären Überführungsfahrt als Anhang eines Hochseeschleppers vom Jenissej nach St. Petersburg. Dabei kam es zu schweren Beschädigungen durch Seeschlag im Skagerrak. Inzwischen erstrahlt das Schiff in neuem Glanz.

Buchung
Nur bei RUS-CRUISE, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!; jetziges Schiff: MS VALERI TSCHKALOW.

18315 PSW Jenissej MS ANTON TSCHECHOW 1Sonnenuntergang über dem großen Jenissej.

18315 PSW Jenissej MS ANTON TSCHECHOW 2Kleine russisch-orthodoxe Kapelle in idyllischer Lage am Fluss-Ufer.

18315 PSW Jenissej MS ANTON TSCHECHOW 4Dorfbewohner verkaufen geräucherte Jenissej-Fische.

18315 PSW Jenissej MS ANTON TSCHECHOW 10Stachelbeeren und Gurken werden preiswert am Kai angeboten.

18315 PSW Jenissej MS ANTON TSCHECHOW 9Die weite sibirische Flusslandschaft von einem Hügel betrachtet.

18315 PSW Jenissej MS ANTON TSCHECHOW 11Auf den seenartigen Fluss-Ausbuchten kann es auch mal stürmisch werden.

18315 PSW Jenissej MS ANTON TSCHECHOW 12Ein Raketa-Tragflächenboot prescht mit hohem Tempo vorbei.

18315 PSW Jenissej MS ANTON TSCHECHOW 13Der Kapitän schaut beim Anlegemanöver aus der Steuerbord-Nock.

18315 PSW Jenissej MS ANTON TSCHECHOW 17Eine typische russische Wochenend-Datscha am Waldrand.

18315 PSW Jenissej MS ANTON TSCHECHOW 19Der 3.000-Tonnen-Flusstanker WOLGONEFT 37 passiert an Backbord.

18315 PSW Jenissej MS ANTON TSCHECHOW 20Romantischer Sonnenuntergang über der sibirischen Flussaue.

18315 PSW Jenissej MS ANTON TSCHECHOW 27Lokale Genüsse werden in einer Gaststätte an Land verkostet.

18315 PSW Jenissej MS ANTON TSCHECHOW 24Ein Linienschiff passiert auf Gegenkurs.

18315 PSW Jenissej MS ANTON TSCHECHOW 28Steilufer mit Hängetälchen begrenzen stellenweise den Fluss.

18315 PSW Jenissej MS ANTON TSCHECHOW 30Wildes Jenissej-Ufer im Herzen Sibiriens.

18315 PSW Jenissej MS ANTON TSCHECHOW 33Stilvoll eingedecktes Bord-Restaurant.

18315 PSW Jenissej MS ANTON TSCHECHOW 34Hier sitzt man zu den Mahlzeiten sehr bequem.

18315 PSW Jenissej MS ANTON TSCHECHOW 35Der Aussichtssalon verdient seinen Namen allemal.

18315 PSW Jenissej MS ANTON TSCHECHOW 36Auf dem überdachten Sonnendeck achtern.

18315 PSW Jenissej MS ANTON TSCHECHOW 37Blick vom Sonnendeck auf einen typischen Flussbahnhof.