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HISTORIE-AUSGABE-3-2014 

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Die KÖNIGSTEIN der Red Star Line legt in Antwerpen ab.Die KÖNIGSTEIN der Red Star Line legt in Antwerpen ab.

 

Günter Schenk

Red Star Line: Mit dem Schiff nach Amerika

In Antwerpen erzählt ein neues Museum Emigrationsgeschichte

Mit den Schiffen der Red Star Line reisten gut zwei Millionen Menschen von Antwerpen nach Amerika. Auswanderer meist, die jenseits des Atlantiks eine neue Heimat suchten. Unter ihnen Hunderttausende von Juden, die vor ihren Verfolgern in Russland oder Nazi-Deutschland flüchteten. Frauen und Männer wie der Erfinder der Relativitätstheorie, Albert Einstein, der weltberühmte Komponist Irving Berlin oder Golda Meir, Israels bislang einzige Ministerpräsidentin. Ihre oft abenteuerlichen Reisen dokumentiert ein neues Museum in Antwerpen. Passagierlisten, Videos, Modellschiffe, Briefe, Karten, Plakate und andere stumme Zeitzeugen geben Einblicke in die Herzen der Menschen, die vor und nach 1900 Europa verlassen mussten. Wegen wirtschaftlicher Not verließen die Menschen vor 1900 Europa mit dem Schiff, nach 1900 vor allem, weil  sie politisch verfolgt wurden.

Red Star Line prangt in großen Buchstaben über dem alten Backsteingebäude im Norden Antwerpens. Nur einen Steinwurf von der Schelde, dem breiten Zubringer-Fluss zur Nordsee, ist in die einst abbruchreifen Mauern neues Leben eingezogen. Rund hunderttausend Besucher werden jährlich im neuen Museum erwartet, das nur ein paar Schritte hinter dem Museum Aan de Stroom (MAS) die zweite große Besucherattraktion im Szeneviertel „Eilandje” werden soll.

„Wir haben”, freute sich Antwerpens Kulturchef Philip Heylen bei der Eröffnung der gut 18 Millionen € teuren Ausstellungsstätte, „kein neues Museum gebaut, sondern einen alten Bau neu belebt”. Denn für viele Hunderttausend Menschen war der schmucklose Zweckbau das Tor zur Neuen Welt. Für Neil Diamonds Vorfahren ebenso wie für den Vater des Stepptanz-Königs Fred Astaire.  

Doch die Pforte der Hoffnung stand nicht jedem offen. Jeder zehnte Passagier, so schätzt man, wurde von Antwerpen aus wieder zurückgeschickt. Schließlich durften nur Gesunde an Bord der Passagierdampfer, die zeitweise bis zu 4.000 Hoffnungssuchende wöchentlich Richtung Amerika beförderten. Alte Schwarz-Weiß-Filme zeigen Männer in weißen Kitteln, welche die Haare der Reisenden nach Flöhen durchkämmen und ihre Augen auf Trachom inspizieren, eine damals weit verbreitete Krankheit, die zur Erblindung führen konnte. Passagiere der Dritten Klasse wurden vor der Einschiffung eine Stunde lang geduscht, ihr Gepäck samt Kleidern gründlichst desinfiziert. Denn die Angst war groß, Typhus, Cholera und andere Krankheiten einzuschleppen. Schließlich dauerten die ersten Atlantiküberquerungen mehrere Wochen ‒ später immer noch acht bis zehn Tage.

Passagierlisten, Tickets und Werbeplakate dokumentieren die Arbeit der Red Star Line. Die belgisch-amerikanische Schifffahrtslinie, die anfangs nach Philadelphia, später dann aber vorwiegend nach New York oder Kanada fuhr, hatte 23 Schiffe in ihren Diensten. Ozeandampfer wie die BELGENLAND, die auf der gleichen Werft wie die TITANIC in Irland vom Stapel lief, eines der größten Schiffe der damaligen Zeit. Einen roten Stern zeigt die Flagge der 1872 gegründeten Reederei, die sich deshalb Red Star Line nannte. Von den Ozeanriesen der Linie blieb keiner übrig. Geblieben aber sind die Modelle der schönsten Dampfer, die heue im Museum stehen. Nachbildungen wie die der VADERLAND, dem ersten Schiff der Reederei.

Die Red-Star-Line-Passagiere kamen aus ganz Europa. Vor allem aus Österreich-Ungarn und Russland, von wo sie mit dem Zug über Krakau, Breslau, Leipzig und Düsseldorf nach Antwerpen reisten. 1905 bauten die Belgier deshalb einen neuen Bahnhof, der heute als einer der schönsten der Welt gilt. Schnell umrandeten ihn einige Hotels, in denen die Reisenden vor ihrer Einschiffung Unterkunft fanden.

Rund 1.750 Quadratmeter ist die Ausstellungsfläche des Museums groß, in deren Mauern einst die Passagiere der Dritten Klasse abgefertigt wurden, streng getrennt nach Geschlechtern. Die Aufmöbelung des alten Gemäuers lag in den Händen eines amerikanischen Architekturbüros, das zuvor schon das Museum auf Ellis Island in New York auf Vordermann gebracht hatte: das amerikanische Gegenstück zu Antwerpen sozusagen. Denn auf Ellis Island wurden die Einreisenden noch einmal kontrolliert, zwei von Hundert im Durchschnitt wieder zurückgeschickt – so wie Ita, das jüngste Kind der Familie Chaja Moel, dem die Ärzte wegen eines Augenleidens die Einreise verweigerten. Mutterseelenallein musste die Neunjährige nach Europa zurückkehren, wo sich eine jüdische Hilfsorganisation um das Mädchen kümmerte.

Ein Jahr später erklärten sie die Belgier für gesund, fuhr das Kind mit der Red Star Line zur Familie nach New York. Doch wieder schickten sie die Amerikaner zurück. Erst vier Jahre später durfte sie endlich zu Vater, Mutter und ihren Geschwistern. Es sind Schicksale wie dieses, das die Qualität des Museums ausmacht. Eine von vielen Geschichten, welche die Organisatoren der Ausstellung in jahrelanger Recherche zusammengetragen haben. Detailliert haben Augenzeugen den Geschichtsforschern per Tonband oder Videokamera immer wieder zu Protokoll gegeben, wie es an Bord einst zuging. In 24-Betten-Räumen waren die Passagiere der Dritten Klasse auf Strohsäcken zusammengepfercht. Wie Vieh, haben sie ihren Tagebüchern anvertraut, fühlten sich viele behandelt.

„Menschen im Aufbruch” (People on the move) heißt das Museumsmotto, das sich fast durch die ganze Schau zieht. So beleuchtet eine Bildertafel die Geschichte der Emigration – vom australischen Mungo Man, den es vor vielen Zehntausend Jahren von Afrika nach Australien verschlagen hatte, bis zu einem Kongolesen, der vor dem Bürgerkrieg mit über 100.000 Leidensgenossen ins Nachbarland fliehen musste. 40 Millionen Menschen, schätzt man bei den Vereinten Nationen, sind gegenwärtig „on the run”, also auf der Suche nach einer besseren Welt weit abseits ihrer Heimat.

Hoffnung könnte ihnen das Klavier machen, das fast am Ende der Ausstellung in Antwerpen steht. Eine Leihgabe der Nachfahren Irving Berlins, der unter seinem Namen Israel Isidore Baline Anfang der 1890er Jahre als Fünfjähriger mit seiner Familie aus Weißrussland nach New York auswanderte. Ein Jude, der als singender Kellner sein erstes Geld verdiente und mit dem Schlager „Alexander’s Ragtime Band” schließlich erstmals zu Weltruhm gelangte. Obwohl er weder Noten lesen, noch richtig Klavier spielen konnte, schrieb er Musikgeschichte. Lieder wie „White Christmas” oder „There’s no business like showbusiness” entstammten seiner Feder. Vor allem aber schrieb er Amerikas inoffizielle Nationalhymne „God Bless America”. Der Bestseller eines Auswandererkindes, der auf jenem Klavier erstmals ertönt sein soll, das jetzt in Antwerpen steht. Irvings Kopf zierte übrigens lebenslang eine Narbe. Sie stammte von einem Taschenmesser, das ein Passagier vom Promenadendeck der Red Star Line auf den kleinen Isidore in der dritten Schiffsklasse fallen ließ.

Information: Red Star Line Museum, Montevideostraat 3, B-2000 Antwerpen, Telefon +3232320103, www.redstarline.be · Öffnungszeiten: Dienstag-Freitag 10-17, Samstag-Sonntag 10-18 Uhr, Eintritt 8,00 € (ab 65 Jahre 6,00 €), Kinder unter 12 Jahren gratis. Führungen nach Anmeldung auch auf Deutsch.

Nur einen Steinwurf von der Schelde, dem breiten Zubringer-Fluss zur Nordsee, ist in die einst abbruchreifen Mauern neues Leben eingezogen.Nur einen Steinwurf von der Schelde, dem breiten Zubringer-Fluss zur Nordsee, ist in die einst abbruchreifen Mauern neues Leben eingezogen.

„Menschen im Aufbruch” (People on the move) heißt das Museumsmotto, das sich fast durch die ganze

„Menschen im Aufbruch” (People on the move) heißt das Museumsmotto, das sich fast durch die ganze

Schau zieht. So beleuchtet eine Bildertafel die Geschichte der Emigration.

Antwerpens Kulturchef Philip Heylen und Red-Star-Line-Emigrantin Fuentes.Antwerpens Kulturchef Philip Heylen und Red-Star-Line-Emigrantin Fuentes.

Das Modell der VADERLAND, dem ersten Schiff der Red Star Line Reederei.

Das Modell der VADERLAND, dem ersten Schiff der Red

Star Line Reederei.

Der nachträglich aufgesetzte „Aussichtsturm” des Red Star Line Museum in Antwerpen ist die Andeutung eines Schiffsbugs.Der nachträglich aufgesetzte „Aussichtsturm” des Red Star Line Museum in Antwerpen ist die Andeutung eines Schiffsbugs.  

„Menschen im Aufbruch” drückt auch diese Fotowand aus und mit den realen Koffern davor ist sie fast schon eine Skulptur.

„Menschen im Aufbruch” drückt auch diese Fotowand aus und mit den realen Koffern davor ist sie fast schon eine Skulptur.

Ein Plaket der Red Star Line aus dem Jahr 1893 wirbt für die Überfahrt in die Neue Welt.Ein Plaket der Red Star Line aus dem Jahr 1893 wirbt für die Überfahrt in die Neue Welt.

So sah ein amerikanischer Karikaturist Uncle Sam und die Einwanderer.So sah ein amerikanischer Karikaturist Uncle Sam und die Einwanderer.

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