AUSGABE 2/2012
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Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther, Stralsund
Das Denkmal von Zar Peter I. an der kilometerlangen Uferpromenade von Astrachan. „Einmal an der Wolga spazierengehen ...”, schwärmte auch Lenin
während seines Züricher Exils.
 
Vom Kaspischen Meer zum Goldenen Ring 

„Vor allem Russland-Romantik” wünsche sie sich, sagt die Nachbarin zur Linken, und der Gast zur Rechten ist sogar „mit dem Land verheiratet”, wie er gesteht. Während sie Neuling im Land ist, gibt er sich „alter Hase” zu erkennen. Beide wollen zum ersten Mal Europas längsten Fluss erkunden und verbinden emotionale Erwartungen mit dem Mythos „Mütterchen Wolga”, die  „im Herzen jedes Russen fließt”. So jedenfalls wird sie vielfältig besungen.

 

Entspannt schlürfen sie den Begrüßungssekt an Oberdeck. Die Gläser klirren vielstimmig in der lauen Abendluft, als Kreuzfahrtleiterin Ludmila im Namen von Kapitän Andrej Alexandrowitsch eine erlebnisreiche Reise wünscht. Wie bestellt versinkt die Sonne glutrot über dem Kranfiligran des Hafens von Astrachan und vergoldet den Strom.

2138 Fluss-Kilometer liegen vor den 43 Gästen der ALDAN. „Bei dieser Reise”, informiert Ludmila über die kommenden acht Tage, „erleben Sie das südliche Russland vom Wolga-Delta über den Unterlauf bis in die alte Handelsmetropole Nishnij Nowgorod”. Ein Stückchen Wolga kennen einige Gäste schon. Wer von Moskau nach Sankt Petersburg oder umgekehrt gereist ist, hat gerade mal schlappe 350 von insgesamt 3690 Kilometern erlebt, bekommt aber Appetit auf den „langen Rest”, wie jemand sagt.

Über die kilometerlange Uferpromenade – „einmal an der Wolga spazierengehen ...”, schwärmte schon Lenin während seines Züricher Exils – bummeln junge Russen. Sie feiern laut- und promillestark das beginnende Wochenende. Wie überall auf der Welt. Zar Peter der Große, Förderer Astrachans, schaut von seinem Denkmalssockel großzügig über das Treiben hinweg in die Ferne. „Wolga, Wolga, matj rodnaja ...” wimmern an Oberdeck Josifs Balalaika-Klänge die bekannte Volkslied-Melodie über Stenka Rasin, den russischen Robin Hood, und animieren zum Mitsummen. Sanft unterstützt von Pianistin Alla. Pure Romantik, und die sogar bei Neumond, wie sie sich Maria, die „Nachbarin zur Linken”, gewünscht hat.

 

Kaviar-Hauptstadt zwischen Verfall und Aufstieg 

Wasserreiches Astrachan, gegründet als Tataren-Khanat Mitte des 15. Jahrhunderts auf Inseln zwischen elf Nebenarmen der Wolga. Noch über hundert Kilometer sind es von hier bis zum Kaspischen Meer. Landwirtschaft, Industrie und Verdunstung trugen dazu bei, dass der Wasserspiegel zwischen 1929 und 1977 um 27 Meter sank und Astrachan ins Binnenland an den Rand des Wolga-Deltas verbannt wurde. Die Halbmillionen-Stadt floriert dennoch: weniger als Wächter am alten Handelsweg über das Kaspische Meer in den Iran und nach Aserbeidschan, dafür umso mehr als Standort von Werften, Fischindustrie und Ölraffinerien. Die Erdöl- und Erdgasreserven des Gebietes zählen zu den größten der Welt. Dennoch fehlen die Mittel, um den Altstadtkern zu sanieren. Wertvolle historische Holzhausviertel rotten eingefallen vor sich hin und bieten einen deprimierenden Anblick. Andererseits gibt man sich Mühe, um Lichtblicke zu schaffen wie Parks, Promenaden, Geschäfts- und Wohnhäuser.

Das Stadtensemble beherrscht jedoch die vollständig restaurierte mittelalterliche Kreml-Festung, in den Dutzende von Hochzeitspaaren strömen: um sich innerhalb der von sieben Türmen bewachten eineinhalb Kilometer langen Wehrmauern ablichten zu lassen. Ausgelassen feiern sie mit Verwandten und Freunden – natürlich bei Champanskoje. Auch einigen der ALDAN-Gäste wird ein Glas angeboten: „Na sdarowie!”

Alltagseinblicke auf dem Fischmarkt. Wels und Stör, goldbraun geräuchert, dominieren, aber auch getrocknete Kleinfische wie Stinte, die wie Chips gern zum Bier geknabbert werden. „Kaviar”, erklärt Ludmila, „stammt heute überwiegend von Zuchtfischen und kostet rund 300 Euro das Kilo”. Unkundige Touristen werden oft mit schwarz gefärbten Lachseiern übers Ohr gehauen, warnt sie vor einem schnellen Kauf. Niemand greift deshalb zu, alle lassen es beim bloßen Anschauen bewenden.

Die „Hauptstadt des Kaviars” kann mit ihnen kein Geschäft machen. Wohl aber die Markthändler mit der Besatzung, die für den Eigenbedarf berge- und säckeweise Melonen, Zwiebeln, Tomaten, Gurken und Äpfel einkauft. Die Vitamin-Beute wird im Gang rings um das Hauptdeck gelagert. Für die Gäste nur ein Augenschmaus.

 

Taj Mahal am Goldenen Ufer 

Astrachan gilt nicht nur als wasserreiches „Venedig an der Wolga”. Mit einem krassen Gegensatz wird man dort konfrontiert, wo das Stadtgebiet ausfranst in die zentralasiatische Steppe. Ein Werk des Kontinentalklimas: heiß im Sommer und strenge Kälte im Winter, kombiniert mit großer Trockenheit und heftigen Winden. Das Thermometer zeigt Anfang September noch 35 Grad im Schatten, „in der Sonne klettert das Quecksilber manchmal bis auf 60 Grad”, worunter auch Ludmila leidet, wie sie sagt. Auch bei minus 30 Grad im Winter.

Der Bus rollt über mehrere Wolga-Arme und holprige Straßen durch gelbes, leicht gewelltes Grasland, nur hin und wieder von Buschvegetation unterbrochen. Kühe weiden den kümmerlichen Rest ab. Der Horizont scheint endlos zu sein. Aus dem ragt plötzlich ein weißes Gebäude, das Horst, den weitgereisten „Nachbarn zur Rechten“ und früheren Russisch-Lehrer, an eine Miniaturausgabe des indischen Taj Mahal erinnert. Hier kann man die Gedanken der Menschen anregen”, reizt Ludmila ihre Zuhörer zum Lachen.  

Das Ensemble entpuppt sich als Gedenkstätte mit „Internationalem Kulturzentrum” am Rande des Dorfes Kurmangaz („Goldenes Ufer”). Kasachen, Kalmücken und Tartaren – Christen, Moslems und Buddhisten – leben hier einträchtig beieinander.

Zwei junge Kalmücken-Frauen in Tracht bieten Brot und Salz zur Begrüßung an. Im kleinen Nationalmuseum wird die Geschichte der Region präsentiert. Daneben flattert ein rundes knallbuntes Plastikzelt im heißen Steppenwind – es soll die traditionelle Behausung der früher nomadisierenden Hirten symbolisieren.

Im Restaurant biegen sich die Tische unter kasachischen Spezialitäten. Natürlich wird auflockernder Wodka zur Folklore gereicht, ein Hochzeitstanz vorgeführt und der Gesang des Steppenvolkes stimmstark von asiatisch anmutenden Dorfkünstlern zu Gehör gebracht. Über der Szene flimmert ein riesiger Flachbildschirm mit Filmsequenzen aus vergangenen „ruhmreichen” (Sowjet-)Zeiten. Kontraste auch hier. „Wir sind zwar im tiefsten Süden Russlands”, erklärt Ludmila, „aber die Kultur ist asiatisch”. Das übertrage sich auch auf die Russen, „die sogar Angst vor dem berühmten bösen Blick haben”.

 

Vier-Mal-Brandenburg-Delta

Was wäre eine 3044-Kilometer-Kreuzfahrt von Moskau nach Astrachan, ohne das gewaltige Wolga-Delta erfahren zu haben oder wenigstens einen kleinen Teil davon?!

Wieder machen sich 43 „ALDANer” auf den Weg: 60 Kilometer auf Schüttelpisten nach Südosten durch die salzige braune Wüstensteppe der unter dem Spiegel der Weltmeere liegenden Kaspisenke. Warntafeln weisen auf das Grenzgebiet zu Kasachstan hin und die Pflicht, stets den Pass dabei zu haben. Ein KGB/FSB-Plakat tut in Dutzenden Paragrafen kund, was alles verboten ist.

Mit kleinen, uralten Motorbooten flitzen sie im 50-Kilometer-Tempo – Ohropax ist angeraten! – durch das Schilfdickicht der Nebenarme. 800 große und unzählige kleine sind es insgesamt, verteilt auf unglaubliche 120 Kilometer Länge und 200 Kilometer Breite. „Det is ja vier Mal so jroß wie Brandenburch!”, ruft ein Mitfahrer aus dem verglichenen Bundesland ungläubig aus. Angekommen an der nördlichen Peripherie des größten Binnensees der Welt, auf dem ausgewachsene Seeschiffe verkehren. Seine Länge entspricht der Entfernung vom norwegischen Skagerrak bis zum österreichischen Innsbruck.

Allein 300 Arten von Wasservögeln sind in dieser von Wasserflächen durchsetzten Steppenlandschaft aus Wiesen, Weiden und Schilfwäldern heimisch – ein in Europa einzigartiges Biotop. Ende April wird alles überschwemmt, wenn der Fluss seine Schmelzwassermassen bis zu eineinhalb Meter hoch im Delta staut und sich dann ins Kaspische Meer verdrückt. Der behäbige, schwerfällige Binnenfluss – er gleicht damit dem an seinen Ufern wohnenden Menschenschlag –, der in kein offenes Meer mündet, verschwindet quasi im Nichts. Nur über Kanäle ist er mit den Weltmeeren verbunden. Wie später ein Schleppzug beweist, der mit einem für die kaspischen Ölfelder bestimmten Schiffsneubau von Norwegen nach Baku unterwegs ist.

 

Ohropax für Fotosafari 

Erhaschen können die Fotosafari-Schnellbootfahrer einen majestätisch über ihnen kreisenden Seeadler, allenfalls noch Kormorane oder Graureiher. Das kleinere Federvieh flüchtet vor der knatternden Kavalkade. Bis voraus rosa Punkte aufleuchten: die sehnlichst erwarteten schwimmenden Teppiche aus legendären Lotosblüten. Die Boote gleiten behutsam hinein, bis ihre Motoren verstummen. Blankes Staunen vor dieser Pracht lähmt sogar kurzzeitig die Fotografen.

Gelbe und weiße Seerosenfelder lösen die Lotosblüten ab. Sogar zu knabbern gibt es: Wassernüsse. Der Bootsführer zieht ein paar sternförmige Blattrosetten ins Boot, dreht die Früchte ab und schält sie in Sekundenschnelle. „Köstlich”, strahlt Horst, „wie Kohlrabi!”

Im urigen Inselrestaurant wird eine andere Spezialität serviert: Stör. „Der Fisch”, erklärt Ludmila nach dem ersten Toast, „kann bis zu sieben Meter lang werden und eineinhalb Tonnen schwer, im Schnitt aber nur 40 bis 70 Kilogramm. Sogar Kaspi-Robben kann er verschlingen”. Viereinhalb Kilo Kaviar produziert ein Weibchen nach zwölf Jahren. Fangquoten schützen den Fisch, dem aber immer noch Wilderer nachstellen. Wladimir Putin nannte sie bei seinem Besuch im Delta wütend „Fisch-Terroristen”.

Nach zwei prall gefüllten Seh-Tagen im Astrachaner Gebiet heißt es endlich am Spätnachmittag: „Auslaufen nach Norden!” „Zu Berg” einer nur schwachen Strömung entgegen: Zwischen Quelle und Mündung bringt es der gebändigte 3690-Kilometer-Fluss-Gigant gerade mal auf 256 Meter Gefälle. Sein Wasser braucht heutzutage ein Jahr für die Strecke, früher, ohne Schleusen, Stauseen und Kraftwerke, waren es nur 30 Tage.

 

Grüner Anleger mit Gedröhn

Wolga-Landschaft nach dem Aufwachen: schneeweiße Strände und Dünen, brandrote steile Kliffs und grünes Uferdickicht, mal hügelig, mal flach. Maxim Gorki, 1868 in Nishni Nowgorod geboren, das 1932 auch seinen Namen erhielt, und an der Wolga aufgewachsen, beschreib sie: „Du siehst die allmählichen, kaum merklichen Veränderungen des hügeligen Ufers, die immer gleichen Weiten der Wiesen, den grünen Reigen der Wälder; sie kommen dicht ans Wasser heran, und nachdem sie sich darin gespiegelt haben, weichen sie still wieder zurück. Du siehst das und denkst, dass es auf der ganzen Welt keinen Ort von so einfacher und zarter Schönheit mehr geben könne wie die schweigenden Ufer dieses Flusses”.

Mit Letzterem ist es ab 15 Uhr vorbei. Bei Flusskilometer 2837, südlich der Salz- und Gemüsestadt Achtubinsk, soll an einem „grünen Anleger”, „also mitten in der Pampa”, wie das Horst nennt, festgemacht werden. Für drei Bade-, Wander- und Grillstunden am Wolga-Strand vor einer endlosen Waldwand. Einsamkeit und Ruhe versprechen sich die Gäste von dem Naturausflug. Stattdessen liegt die ALEXANDER NEVSKIJ schon dort, ein 1959 in Wismar gebauter Zwei-Schornsteiner („Qualität gutt, gemacht in GDR”, sagt die Reiseleiterin des großen Schiffes). Der hat jedoch seine Disco-Anlage voll aufgedreht und beschallt das ansonsten idyllische Plätzchen kilometerweit. Zwei Wasser-Scooter drehen unaufhörlich hochtourige Runden mit alkoholisierten, kreischenden Passagieren, die sich auf der angehängten Gummibanane durchschütteln lassen. Sekt- und Bierflaschen stecken im Sand. Ballermann-Atmosphäre.

Die ALDAN-Gäste flüchten, so schnell sie können, und tauchen ab im badewannenwarmen Fluss oder schwärmen aus in den Steppenwald. Überraschung: Im „Wüsten”-Sand ein widerkäuendes Kamel, vor dem sich ein „Araber” in Positur gesetzt hat. Natürlich ein geschäftstüchtiger Russe, der Geld für die Fotos verlangt, sich ansonsten aber wegdreht.

Bis zum Grillen schafft es Ludmila jedoch, ihre Kollegen von der NEVSKIJ zum Abdrehen der „Musik” zu bewegen: „Russen mögen es gern laut”, versucht sie das ohrenbetäubende Gedröhn zu  rechtfertigen.

 

Schauer über den Rücken 

Punkt acht Uhr am nächsten Morgen macht MS ALDAN nach 494 Kilometern am rechten Hochufer in Wolgograd fest – neben dem „Disco-Schiff” ALEXANDER NEVSKIJ. Die Anlage schweigt jedoch, denn seltener Regen – dagegen helfe nur „sto gramm”, empfiehlt Helmut und meint ein Glas mit 100 Gramm Wodka – pladdert aus tiefhängenden Wolken auf die im Zweiten Weltkrieg schwer geprüfte „Helden-Stadt”. Die Dächer einiger Häuser in Kai-Nähe sind gespickt mit Verdienstorden und Porträts von Lenin samt „verdienter Kämpfern”, „weil wir”, wie Anna, die lokale Reiseleiterin begründet, „im ‚roten Gürtel’ liegen”. Damit ist eine der letzten stalinistischen Hochburgen im Land gemeint.

Wolgograd, von 1925 bis 1961 Stalingrad (zuvor hieß sie Zarycin, tatarisch für „gelbes Wasser, gelber Sand”), wurde zwischen August 1942 und Januar 1943 zu 90 Prozent dem Erdboden gleichgemacht. 200 Tage dauerte die erbitterte Schlacht um Stalingrad. „Die Sondermeldungen hab’ ich noch im Ohr”, wird Horst seine Kindertage in Berliner Luftschutzbunkern nie vergessen.

Straße um Straße, Haus um Haus, Stockwerk um Stockwerk wurden erkämpft. Allein 53 Tage, so Anna, hielt der sowjetische Unteroffizier Pawlow die Stellung in der „Roten Mühle” gegen eine bedrückende deutsche Übermacht. „Es muss die Hölle auf Erden gewesen sein”, bemerkt jemand nachdenklich. Noch immer jagt einem das zerschossene Backsteingebäude, die einzige übrig gebliebene Kriegsruine, mit den schwarzen Fensterhöhlen und dem niedergemähten halben Fabrikschornstein Schauer über den Rücken. Die Reste des Gebäudes „bewachen” an der ehemaligen Kampflinie Geschütze, Panzer und Flugzeuge, auch aus Nachkriegsproduktion. „Das ist ein Museum”, erklärt Anna erstaunte Fragen zu dieser martialischen Waffenschau.

 

Mutter Heimat auf Höhe 121 

Erst die Niederlage von Hitlers 6. Armee unter General Paulus brachte die Wende des Krieges. Nachdem über eine Millionen Rotarmisten, Wehrmachts-Soldaten und Zivilisten – erfroren, erschossen, verhungert – diesem Wahnsinn zum Opfer gefallen waren; nicht gerechnet 90.000 Landser, die in Gefangenschaft gerieten, nach Sibirien deportiert wurden und zu einem großen Teil umkamen.

Wehrmachts-Oberst Luitpold Steidle, der an vorderster Linie dabei war, notierte in seinen biografischen Erinnerungen „Es begann an der Wolga”: „Rings um uns stehen die Ruinen und die rauchenden Trümmer einer unübersehbaren Stadt, und dahinter, tief unten fließt die Wolga”. Er stand offenbar auf der am heftigsten umkämpften „Höhe 121”, die auch von der ALDAN-Truppe über 200 Treppenstufen – Symbol für die Dauer der Schlacht – „erstürmt” wird, mit Schaudern vor dem Grauen von einst. Daran erinnern ein Museum und gewaltige Skulpturen, aber auch die Ehrenhalle mit dem ewigen Feuer. Zwei Gardesoldaten stehen unbeweglich Wache, eingerahmt von roten Sowjetsternen aus Blumen. Schumanns verkitschte „Träumereien” säuseln dazu unentwegt. Horst hält den Besuch auf Russisch im Gästebuch fest.

Der 121 Meter hohe Mamajew-Kurgan wird heute überragt von der schwertschwingenden „Mutter Heimat”. 82 Meter reckt sich die 8000 Tonnen wiegende Monumentalstatue in den trüben Himmel. Weit schweift der Blick von diesem schwer umkämpften strategischen Hügel über die in viel Grün eingebettete, geschäftige Industriestadt. Sie wurde im Stalin-Stil komplett wieder aufgebaut.

Am Ausgang, neben den Wasserreservoirs, die der Wehrmacht als Stabsquartier dienten, werden Souvenirs verkauft. Darunter auch Stalin-Porträts und -Büsten, obwohl wie Anna sagt, alle seine Denkmäler entfernt wurden. Der „große Führer” war im Übrigen nie in Stalingrad, das nach seinem Parteinamen benannt wurde. Aus der Ferne verbot er sogar 1942 die Evakuierung der Zivilbevölkerung, weil die Rotarmisten sonst, so dachte er, keinen Grund gesehen hätten, zu kämpfen.

 

Schleußen-Theater mit Folgen 

Aus dem Regendunst grüßt noch einmal „Mutter Heimat” mahnend ins Flusstal herunter, bis sie abgelöst wird von einer kilometerlangen Phalanx aus qualmenden Industrieschloten.

Gespannte Aufmerksamkeit macht sich breit, als MS ALDAN in einem Kanal die Fahrt drosselt. „Wolschskij, die ersten beiden von sechs Schleusen auf unserer Reise mit einem Gesamthöhenunterschied von 66 Metern”, kündigt Ludmila an, als voraus ein riesiger Betonklotz in Sicht kommt. Das Schiffsvolk versammelt sich zum „Schleusen-Theater“ an Oberdeck. Der ständige ALDAN-Begleiter ALEXANDER NEVSKIJ ist in dem gewaltigen Trog auf Beiboot-Größe geschrumpft. Der Kapitän bugsiert seinen Oldtimer auch ohne Bugstrahlruder behutsam und ohne Kratzer in die erste Kammer.

An der von Algen glitschigen schwarzen Betonwand gleitet das Schiff in beinahe rasantem Fahrstuhltempo in die Höhe: zwölf Meter. Blick frei auf eines der mächtigsten Wasserkraftwerke der Welt mit einer Leistung von 2,5 Millionen Kilowattstunden. Die 700 Meter lange Turbinenhalle protzt mit der Höhe eines 13-stöckigen Wohnhauses, der Staudamm mit einer Länge von fünf Kilometern. Endlose Güterzüge und Autokolonnen donnern über ihn hinweg, auch über die Schleuse. „Wenn das Schiff gerade unter einem Zug fährt”, lächelt Katja, Ludmilas Assistentin, „darf man sich etwas wünschen”. Zum Beispiel viele, gute Fotos von der Doppelschleusen-Passage. Doch es kommt anders.

 

Spionageverdacht überdeckt Farbtupfer 

„Nix fotografieren mich!”, herrscht der junge Steuermann böse zwei harmlose Hobby-Fotografen an, die hinter dem Ruderhaus stehen und völlig verstört zusammenzucken. „Man hat hier immer noch das ungute Gefühl”, beklagt sich Helmut, auch er ehemaliger Russisch-Lehrer, „als Spion verdächtigt zu werden, wenn man filmt oder fotografiert”. Kapitän Alexandrowitsch versucht hinterher „diplomatisch” die Wogen zu glätten, indem er von „Missverständnissen mit dem Schleusenwärter” spricht.

Nach einer weiteren Anhebung um zwölf Meter steckt ALDAN ihre Nase in den Wolgograder Stausee, dem ersten von sieben Riesengewässern. Unglaubliche 524 Kilometer erstreckt er sich zwischen den Schleusen von Wolschskij im Süden und Balakovo im Norden, dehnt sich bis zu 14 Kilometern Breite und ist zwischen zehn und 32 Meter tief. Die Wolga gerät zum Binnenmeer, dem ein stürmisch von vorn blasender Nordwind Schaumköpfe aufgesetzt hat. Die wie eine Torte verschiedenfarbig geschichteten und gewellten Steilufer aus Kalkstein, Lehm und Humus spiegeln sich im Wasser und geben reizvolle Fotomotive ab. Eingesprenkelt in grüne Steppentäler sind hin und wieder Farbtupfer aus bunten Dächern von Datschen- oder Sommerhaussiedlungen. Dann wieder Schilfwälder, die sich unter der Bugwelle krachend und rauschend biegen. Im Hinterland dehnen sich endlose goldgelbe Weizenfelder. Einer der schönsten Streckenabschnitte.

Kurz vor Saratow, 385 Kilometer nach Wolgograd, informiert Ludmila wieder einmal ihre Gäste: „Meine Damen und Herren, wir passieren gerade am flachen linken Ufer das Dorf Smelowka. 20 Kilometer landeinwärts markiert ein 27 Meter hoher Obelisk die Stelle, an der Kosmonaut Jurij Gagarin nach dem ersten bemannten Weltraumflug am 12. April 1961 landete. Er stammte aus der Region Smolensk, kam aber zum Studium nach Saratow und verunglückte 1968 bei einem Flugzeugabsturz tödlich”.

 

Begegnung in der Fußgängerzone 

„3,5 Kilometer misst sie, eine der längsten Brücken Europas. Sie verbindet Saratow mit Engels/Pokrovsk, der früheren Hauptstadt der sowjetisch-deutschen Wolgarepublik”, erklärt Reiseleiter Wladimir in monotonem Singsang über einen plärrenden Lautsprecher beim ersten Stopp am Hafen.

Erst zum Schluss der – wie üblich – mit Informationen vollgestopften Tour, in der zwei Kilometer langen Fußgängerzone mit Fast-„West-Standard”, wird es „lebendig”.

„Guten Tag!”, wünscht ein bärtiger Zopfträger auf Deutsch und strahlt über sein wettergegerbtes Gesicht, weil er per Zufall Landsleute getroffen habe. „Ich heiße Alexander Baumann und lebe auf der anderen Wolga-Seite in Pokrovsk”. Man kommt ins Gespräch und erinnert sich an den Artikel „Deutsche Sowjetrepublik” in der „Welt am Sonntag” (28. August 2011) von Kathrin Spoerr (ein Jahr lang verbrachte sie im Siedlungsgebiet der Deutschen als Gastredakteurin einer deutschsprachigen Zeitung): „Über kaum eine Einwanderungsgruppe ist so wenig bekannt und wird so viel Falsches verbreitet wie über die Russlanddeutschen. Das beginnt schon bei ihrer Bezeichnung ‚Deutschrussen’”. Und in Russland seien sie „die Deutschen“, sagt Straßenmusiker Alexander in hartem Tonfall, stellt die Gitarre ab und bittet uns, auf einer Bank Platz zu nehmen, um „etwas über sein vertriebenes Volk zu erzählen”.

 

Vertriebenen-Schicksal stimmt nachdenklich 

Seine hessischen Vorfahren waren 1764 dem Ruf der deutschstämmigen Zarin Katharina II. als Kolonisten an die Wolga gefolgt. Sie besiedelten und bebauten das Land, um einen Vorposten gegen die Kosaken und Nomadenstämme im Süden zu bilden. 700.000 waren es zu Beginn des Ersten Weltkrieges, und die überaus fleißigen Menschen galten – trotz ihrer herausragenden landwirtschaftlichen, handwerklichen und kulturellen Leistungen für Russland – fortan als „innere Feinde”.

1924 wurden sie in der „Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen” zusammengefasst. Weil Paranoiker Stalin in den Wolgadeutschen potenzielle Verbündete der Wehrmacht vermutete, wurde die Republik nach dem Nazi-Überfall im August 1941 aufgelöst. Eine Million Deutsche ließ der grausame Diktator „prophylaktisch” als „Kollaborateure” nach Sibirien, Kasachstan, Tadschikistan und Kirgisien verbannen. Erst seit 1964 stufte man sie nicht mehr als „Staatsfeinde” ein, eine Rückkehr in ihre alten Siedlungsgebiete wurde ihnen jedoch verweigert. Ab 1970 konnten sie im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland ausreisen, 1972 erhielten sie sowjetische Bürgerrechte. „Erst 1991”, so Alexander am Ende seines historischen Kurzvortrages, „durften wir hierher in unsere alte russische Heimat zurückkehren und wieder einmal von vorne beginnen”.

 

Falkenberg-Blick auf Marx und Engels

Zum Abschied greift er in seinen Rucksack, um uns seine CD mit selbst komponierten Liedern zu schenken. Wir sind beschämt, weil wir uns nicht revanchieren können, und trennen uns nachdenklich. Während der Stadtrundfahrt durch die gepflegte Stadt Saratow (tatarisch-mongolisch für „Gelber Berg”), die 1590 als Grenzfestung und Sicherungsposten der Wolga-Schifffahrt gegründet wurde, kreisen die Gedanken immer wieder um die Worte von Alexander, „dem Deutschen”.  Besonders dann, wenn an einigen Geschäften deutsche Bezeichnungen wie „Askese”, „Café Elfe”, „Edelweiß” oder „Bierbar Brüderschaft” auftauchen.

Der 250 Meter hohe Falkenberg wurde zu einer Gefallenengedenkstätte mit Waffenschau umgestaltet. Am Turm eines T-34-Panzers liest man in großen weißen Lettern: „Auf nach Berlin!” und „Es lebe Stalin!”. Vom Mahnmal blickt man über die bis zur Wende für Ausländer gesperrte Rüstungsindustrie-Stadt. Jenseits der Wolga-Brücke liegt Engels (Marx liegt nur wenige Kilometer nördlich), wo der „Gut-Mensch” Alexander mit dem innerrussischen Vertriebenen-Schicksal lebt.

Bei Dunkelheit schleicht sich MS ALDAN hinaus auf den kilometerbreiten Strom. Saratows Lichter verquirlen im Kielwasser. 429 Kilometer oder zwei See-Nächte und ein Tag liegen vor den Gästen bis zum nächsten Wolga-Hafen Samara, dem früheren Kujbyschew. Die frühherbstliche Regenzeit fesselt sie an den Mehrzweckraum, und Ludmila kann für reichlich Unterhaltung sorgen: ob mit Brücken- und Maschinenraumführungen, Mal- und Russischkursen, Spielfilm oder Tanzveranstaltung.

Die von Schaumstreifen gebänderte Wolga und der Wolkenhimmel geben sich einheitlich grau in grau. Helmut hat sich heute schon beim Frühstück einen doppelten Wodka genehmigt, „um die Trübsal zu verscheuchen und auf Touren zu kommen”. Als Mitglied des Passagier-Bordchors muss er außerdem seinen „Bariton ölen” für das Léhar-Lied „Steht ein Soldat am Wolga-Strand ...”, rechtfertigt er den frühen „Wässerchen”-Konsum zu Gurken und Tomaten. Beides hat er preiswert an Land eingekauft. Als auf dem Mittagstisch – nach Rücksprache von Ludmilla mit der Chefköchin – plötzlich das seit Tagen vermisste rote und grüne Gemüse aufleuchtet, hellen sich die Gesichter wieder auf. 2. Teil auf Seite 18

Karte des Fahrtgebietes
Übersichtskarte der russischen Wasserwege vom Schwarzen und Kaspischen Meer im Süden bis zum Weißen Meer im hohen Norden Russlands,
sowie den Wolga-Ostsee-Kanal, Sankt Petersburg und die Newa im Nordwesten.
Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther, Stralsund
Oldtimer MS ALDAN: Baujahr 1960 in Ungarn als Bau-Nr. 1546 auf der Budapester Werft Obudai Hajogyar. Flagge Russland, Reederei Gama, Nishni Nowgorod.
Länge 78 Meter, Breite 15,20 Meter, Charterer
Lernidee Erlebnisreisen, Berlin.

Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther, Stralsund

Fischmarkt in Astrachan. Stör, goldbraun geräuchert, dominiert. Kaviar ...

 

Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther, Stralsund

... stammt heute überwiegend von Zuchtfischen und kostet rund 300 € das Kilo.

Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther, Stralsund 

Mehrere Hochzeits-Gesellschaften tummeln sich vor der Mariä-Entschlafens-Kathedrale von Astrachan. 

Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther, Stralsund

Überglückliches Brautpaar.

Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther, Stralsund
Im Wolga-Delta: Die sehnlichst erwarteten schwimmenden Teppiche aus Lotosblüten. Die Boote der Ausflügler gleiten behutsam hinein, bis ihre Motoren verstummen. Blankes Staunen vor dieser Pracht lähmt sogar kurzzeitig die Fotografen.
Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther, Stralsund
Für drei Bade-, Wander- und Grillstunden am Wolga-Strand vor einer endlosen Waldwand. Einsamkeit und Ruhe versprechen sich die Gäste von dem Naturausflug. Stattdessen liegt die A
LEXANDER NEVSKIJ schon dort, ein 1959 in Wismar gebauter Zwei-Schornsteiner.
Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther, Stralsund
Der 121 Meter hohe Mamajew-Kurgan wird heute überragt von der schwertschwingenden „Mutter Heimat”. 82 Meter reckt sich die 8000 Tonnen wiegende Monumentalstatue in den trüben Himmel von Wolgograd.

Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther, StralsundEine der längsten Brücken Europas. Sie verbindet Saratow mit Engels/Pokrovsk.

 

Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther, StralsundSaratow empfängt die ALDANer mit Regen, Regen, Regen ...

Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther, StralsundIn der zwei Kilometer langen Fußgängerzone Saratows mit Fast-„West-Standard”.

 

Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther, StralsundMusiker Alexander erzählt den ALDANern „etwas über sein vertriebenes Volk”.

Foto: Dr. Peer Schmidt-Walther, Stralsund
Merkwürdige Uferformationen hat Mütterchen Wolga vor Saratow gebildet.
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