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Das Vorschiff der MS TRANS ODIN ist eine einzigartige Eisskulptur. Das Vorschiff der MS TRANS ODIN ist eine einzigartige Eisskulptur.

Alle Fotos dieser Seite: Dr. Peer Schmidt-Walther, Stralsund

 

Dr. Peer Schmidt-Walther

Durch Sturm und Eis dem Frühling entgegen?

MS TRANS ODIN trotzt hartnäckigem Ostsee-Winter

Soll man’s glauben, dass die Internetkarte noch fast einen halben Meter Eisdicke anzeigt? Das gilt für den Mälaren, den nach Vänern und Vättern drittgrößten schwedischen See. Den steuert der kleine Frachter in der dritten Märzwoche an. „…während der Frühling immer noch in der Garderobe sitzt und sich für seinen großen Auftritt schmückt”.  

Diese poetisch-verheißungsvollen Worte von NDR-Meteorologe Uwe Ulbrich klingen mir noch in den Ohren, während ich in www.marinetraffic.com „meinen” Dampfer suche. Doch der ist nirgends zu finden.

Erst am nächsten Morgen. Viel zu früh, wie es scheint, nämlich entgegen der Reederei-Auskunft. „Vor 20 Uhr”, hieß es da noch am Vortag, „wird das nichts. Doch MS TRANS ODIN steckt schon im Nord-Ostsee-Kanal mit Kurs auf Kiel-Holtenau. Anruf an Bord. „Bis 16 Uhr sollten Sie schon da sein”, sagt der Zweite Offizier, und man sieht seine Passagier-Felle davon schwimmen. Aus der Traum von der Frachterreise durch den zugefrorenen See westlich von Stockholm. Noch ein Telefon-Versuch. Letztes Wort: ETA, die geschätzte Ankunftszeit, 16.30 Uhr! Das müsste klappen mit dem nächsten Zug. In Windeseile alles zusammengerafft, Rucksack geschultert und bei Minusgraden und Schnee ab zum Bahnhof. „Du musst verrückt sein”, meinte ein Freund, „bei so einem Wetter freiwillig zur See zu fahren!” Antwort darauf: „Na, wie früher!” „Denn man tau!”, bekommt man dann nur noch mitleidig-knapp zu hören. 

 

Just in time mit Gänse-Show

Trotz Streikdrohungen ist die Deutsche Bahn pünktlich in Kiel. Der Taxifahrer gibt Gas und ist begeistert von dem Vorhaben Frachterreise: „Das mach ich auch mal zusammen mit meiner Frau!”

Der Wächter am Schleuseneingang gibt sich, trotz ISPS-Sicherheitsvorschriften, unbürokratisch-hilfreich: „In zehn Minuten kommt TRANS ODIN um die Ecke und macht an der Nordseite der großen Schleusenkammer fest. Und nu man los!” Kaum auf der Schleusenbrücke, klingelt die Alarmglocke und die gelben Rundumleuchten warnen: „Nicht mehr betreten!” Sei’s drum, im Spurt geht’s auf die andere Seite. Geschafft! Internet und Bordtelefonnummer sei Dank!  

In dem Moment kriecht der blau-weiße Frachter unter der Holtenauer Hochbrücke hindurch: just in time! Das Licht ist noch gut für ein paar Fotos, während sich der 97 Meter lange 4365-Tonner mit kleiner Fahrt in die Kammer schiebt und Festmacher die Wurfleinen mit ausholender Geste an Bord schleudern. Doch zwei unerschrockene grau-schwarze Kanada-Gänse, die dem unaufgeregten Spektakel von der Kaimauer aus interessiert zusehen, stehlen ihnen kurz die Schau. Die Gangway wird an Bord gerollt, Lotse und Kanalsteurer gehen von Bord und grüßen kurz mit dem im Norden allgegenwärtigen „Moin!” 20 Minuten Zeit für den Schiffsmakler und seine Papiere, während die Matrosen noch Proviant von einem Versorgungskarren an Deck schleppen.

 

Hinterpommer und Ostpreuße

Kurze, aber freundliche Begrüßung und man ist zu Hause, zumindest für die kommende Woche. Seefahrtschul-Praktikant Marcel Tiekwe aus Potsdam, ein ehemaliger Mariner von der GORCH FOCK (II)-Stammbesatzung, führt durch die Aufbauten vier Decks oder 48 Stufen nach oben: „Das hier ist ihre Kammer. Willkommen an Bord”. Hell und freundlich, klein, aber fein: drei Fenster, eins nach vorn, zwei zur Backbordseite, alle drei mit unverbaubarem Seeblick. Durch einen Vorhang abgetrennt der Schlafraum mit breitem Bett sowie Bad samt Dusche und WC. Dazu Schreibtisch, eine gemütliche Sitzecke, Tisch im Salon und einer Schrankwand mit Kühlschrank und Fernseher. Was braucht man mehr?!

Marek Werecki, der Zweite – „aus dem hinterpommerschen Stolp”, wie er sagt, dem heutigen polnischen Slupsk ‒, bringt die Zoll-Liste zum Unterschreiben und zwei Blätter mit Sicherheitshinweisen, „aber die kennen Sie ja sowieso”. Kurz blickt Kapitän Sergej Mashinskiy ‒ „aus Kaliningrad oder Keenigsberg in Astpreußen”, lacht er ‒ um die Ecke und heißt den Passagier, der gleichzeitig Kammernachbar ist, willkommen. „Sie können gleich zum Abendbrot in die Messe runtergehen”, verabschiedet er sich auf die Brücke zum Lotsen. Minuten später schleicht TRANS ODIN mit schlagender Schraube hinaus auf die eisgraue Kieler Förde, vorbei am Marinehafen und dem eingeschneiten Ehrenmal von Laboe mit seinem jetzt weißen Weltkriegs-II-U-Boot.   

Ein steifer Wind bläst eiskalt und schneidend aus Südost und wirft die Ostsee schon querab der Lotsenstation am Kieler Leuchtturm zu Zwei-Meter-Wellen auf. TRANS ODIN fängt an zu bocken, erste Brecher explodieren zu Gischtwolken am Steven und sprühen mit Wirbelfahnen durch die Containergassen.

 

Ruppiges Boxen gegen beschwingtes Tanzen

„Entweder Sie haben gepfiffen oder wir haben eine Frau an Bord”, grinst der Zweite, auch er alter Mariner, im Vorbeigehen, „denn sonst würden wir jetzt nicht so wackeln”. Er erklärt auch, warum das Schiff früher gekommen ist: „Schnelle Abfertigung und gutes Wetter”. Das hat sich schlagartig verschlechtert, so dass das Schiff Kurs auf den Kalmarsund nehmen soll, „da sind wir vor dem steifen Ostwind geschützt”.    

Dennoch schmeckt das Abendbrot vorzüglich: Zwiebelsuppe, Kartoffelsalat und Würstchen, Eier, Aufschnitt, saurer Hering. „Lassen Sie sich Zeit”, lächelt Koch Denys Serbin aus dem ukrainischen Odessa bescheiden, „wo 90 Prozent der Mädels hübsch und nur zehn Prozent alt sind”. Er, der nicht nur gut kocht, sondern auch nach seinem Urlaub die Steuermannsschule besuchen will, freut sich über das Kompliment, dass man das Abendbrot für geradezu üppig hält. „Frühstück gibt’s bis acht Uhr dreißig, Mittag ab 12 und Abendbrot ab 17 Uhr und zwei Mal Coffee Time um 10 und 15 Uhr”. Recht locker also diese Zeitvorgaben. Man kann einzelne auch ausfallen lassen.  

Den vorab bei der Reederei georderten Karton Bier und Rotwein bringt ein Matrose in die Kammer. Der richtige Auftakt für einen gemütlichen Leseabend mit anschließendem kuschligen Schlaf. Während der Sturm wütend gegen die Aufbauten anrennt, die beim Anprall der Seen zu schwingen anfangen. Ostsee im winterlichen Frühling. Nur einer frisch getauften Jungfer macht das anscheinend nichts aus: der AIDAstella, die an Backbord hell erleuchtet passiert. Eine ungleiche Begegnung in jeder Hinsicht. Ihre Gäste tanzen beschwingt in die erste Kreuzfahrt-Nacht gen Westen – im Gegensatz zu den TRANS ODIN-Fahrern, die sich gegen die ruppige See nach Osten boxen. Vielleicht auch tanzen?

 

Tonnenschwere Hammerschläge

D i e  Nacht war nicht zum Schlafen da, mein lieber Scholli! Der anfangs noch stürmische Förde-Wind hat sich aufgeblasen zum Kuhsturm. Nix da mit süßen Träumen, sondern sich ständig neu verkeilen in der Koje. Sogar der Anorak am Haken hebt fast in die Waagerechte ab. Das Duschen, Strümpfe- und Hose anziehen wird zum Balanceakt, immer nach dem Motto: eine Hand für dich – manchmal auch beide! ‒, eine fürs Schiff. Frühstück? Mal sehen …

Schäumend steigt die bleigraue See mit ihren Sahnehäubchen zeitweise bis in fünf Meter und mehr in die Höhe, knallt wummernd gegen den Rumpf. Unter den tonnenschweren Hammerschlägen vibriert er sekundenlang. Die aufgeworfenen Gischtfahnen fetzen schließlich hoch über den Mast und die 30 Meter hohen Aufbauten hinweg. Ein Reinschiff, das sich gewaschen hat! Der Frachter bäumt sich dagegen auf wie ein unwilliges Pferd.

Allmählich verwandeln sich Vorschiff, Stage und Container zu skurrilen Eisskulpturen. Weggeblasene kiloschwere Eisplacken knallen wie Geschosse gegen das Deckshaus.

Der an Backbord überholende Frachter TIMBUS hebt seine knallrote Wulstbugnase bis zum Kiel vollständig aus dem Wasser oder taucht bis zur Back weg und schöpft wie mit einem Riesenlöffel Wasser, während dann achtern die Schraube machtlos in der Luft quirlt.

 

Ätzend und mitleidig

Die tobende See bremst TRANS ODINs 2700 kW-Power zwischen Fehmarn und Rügen radikal ab und erlaubt ihr nur noch eine stark reduzierte Fahrt von gerade mal zwei Knoten samt bremsenden Windstärken um zehn bis elf nach der Beaufortskala. Da ist auch der deutsche Chief Kai Luppa machtlos. „Jeglicher Aufenthalt an Deck ist”, warnt der Zweite, „strikt verboten!” Am sichersten kann man das im Liegen überstehen. „Wer die See kennt”, meint der Kapitän, „weiß, dass man grundsätzlich mit unvorhersehbaren und ungewöhnlichen Situationen rechnen muss”. Zehn lange Kampf-Stunden hat denn auch die Fahrt bis Kap Arkona gedauert. Mehr als doppelt so viel wie normal.

Vom 100.000-Tonnen-Tanker MATTERHORN SPIRIT schauen sie wahrscheinlich voller Mitleid herüber. Seefahrt live! Auch wenn einem dabei das Frühstück fast schon wieder den Hals hochsteigt … Ex-GORCH FOCK (II)-Fahrer und „Seemann aus Begeisterung” Marcel, schon einiges gewohnt, schaut kurz in die Messe und meint nur: „Ätzend!”

Vor Mitternacht reflektieren tiefhängende Wolken die Lichter der alten Festungsstadt Kalmar. TRANS ODIN steuert den Kalmarsund an und schiebt sich durch zähen Eisbrei nach Norden. Der Kapitän, solide ausgebildet auf der Viermastbark KRUZENSHTERN ex PADUA, braucht keinen Lotsen in diesem tückischen Gewässer, das wenige Wochen zuvor dem Schwesterschiff TRANS AGILA zum Verhängnis wurde, weil sie auf einen Unterwasser-Felsen aufbrummte und anschließend der Maschinenraum volllief. Ein Totalverlust!

Sergej Mashinskiy hat sich hier dank zahlreicher Passagen freigefahren und eine entsprechende Ausnahme-Genehmigung in der Tasche.

Die voraus laufende TIMBUS biegt nach Mönsteras links ab und bleibt prompt im Festeis stecken. 140 Kilometer Schutz bietet der TRANS ODIN allerdings die langgestreckte Insel Öland, bevorzugter Sommersitz der schwedischen Königsfamilie. Endlich ein paar Stunden ruhig schlafen können.

 

100 Tonnen zu viel an Bord

Doch schon gegen sechs Uhr ist Schluss damit, als die wieder offene See ihr gnadenloses, hammerhartes Weckkonzert anstimmt. Schneeschauer trüben die Sicht beim morgendlichen Orientierungsblick aus dem Fenster. Väterchen Frost beschert dazu „nur” minus drei Grad, denn die Ostsee „wärmt”.  

Kapitän Sergej, der Brückenwache hat, blickt auf die Internet-Wetter- und Eiskarte und schüttelt den Kopf: „So was habe ich um diese Zeit hier noch nicht erlebt!” Schuld daran ist ein stationäres sibirisches Hochdruckgebiet, das sich mit stürmischem Nordostwind, Schnee und weiter abrutschenden Temperaturen noch bis zum Wochenende halten soll. Das bringe den Fahrplan durcheinander. Sorgen bereitet ihm auch die zusätzliche Eislast: „Mittlerweile sind es 100 Tonnen geworden, die den Steven tiefer eintauchen lassen. Nur die Büro-Ignoranten an Land fragen, ob wir das nicht vermeiden können”. Das lästige Zeug müsse nämlich mit Dampfstrahlern im Hafen teuer entfernt werden, „sonst können wir weder löschen noch laden”.

Zwei Flaggleinen, die zusammen mit dem Vormast symbolträchtig einen Weihnachtsbaum darstellen, rauschen unter der Last aus ihren Blöcken und knallen an Deck. „Kein Problem”, bleibt Sergej gelassen, „die brauchen wir erst mal sowieso nicht, nur besseres Wetter und endlich Frühling”. Ob den der seit Jahrzehnten hartnäckigste Rekord-Monat März beschert, steht noch in den Sternen. Die Decks-Crew indes macht sich klar zum Freihacken der Winschen und Leinen auf der Back, wenn das Schiff den Lotsen übernommen hat und das ruhige Schärengebiet vor der Küste erreicht ist.     

 

Romantik und See-Tücke

Gegen 13.30 Uhr ist es so weit. Die Maschine wird heruntergefahren, TRANS ODIN macht Lee zum sicheren Übersteigen des schwedischen Lotsen. Endlich Ruhe vor stuckerndem Seegang.

Aus dem Schneetreiben schält sich Landsort, und pünktlich prescht das Lotsenboot mit schäumender Bugwelle heran. Der Kapitänsberater kommt an Bord und fragt ihn auf der Brücke wie üblich nach den wichtigsten Schiffsdaten wie Tiefgang vorn und achtern sowie Höhe, air draft. „Bei 31 Metern über der Wasserlinie müssen Sie den Mast legen”, sagt er, „die Brücke ist nur 26 Meter hoch”. Aber Kapitän Sergej ist ein alter Mälarsee-Hase: „Ich weiß”, antwortet er, „bin schon rund 100 mal hier durchgefahren”. Dann schließt der Schwede seinen Laptop mit den für ihn notwendigen navigatorischen Informationen an und übernimmt das Ruder für rund drei Stunden.

Die Fahrt durch den schärengespickten Himmerfjärden am Rand der Halbinsel Södertörn südlich von Stockholm zeigt sich geradezu romantisch: verschneit die Wald- und Felslandschaft, hin und wieder von Sonnenstrahlen in warmes Licht getaucht, verlassene Sommerhäuser, gepflegte Gehöfte, Herrenhäuser und ein königliches Schloss. Bis sich voraus die erste Brücke von Södertälje ins Blickfeld schiebt. Dann nach einem Waldstück Schnitt: herbe Industriekulisse mit dem SCANIA-LKW-Werk, hinter dem die Schleuse auftaucht. Grün – Einfahrt frei! „Wollen Sie oder soll ich?”, fragt der Lotse. Kapitän Sergej, dick vermummt, übernimmt kurzerhand das Ruder im Außenfahrstand der Backbord-Nock und dirigiert TRANS ODIN mit erfahrener Hand in die schiffsenge Kammer: „Das macht das Schiff schon fast allein”, lächelt der sympathische Russe aus dem alten Ostpreußen bescheiden.

 

Boomregion, Tucholsky und Eispanzer

Als der Ablöser-Lotse übernommen hat, schiebt sich das Schiff im Schritttempo vorbei an der Altstadt von Södertälje durch eine Klappbrücke. Vor der warten frierende Menschen und winken. „Ab hier fahren wir durch Süßwasser”, sagt er, „das ist jetzt der Mälaren”, und vertilgt dabei im Steuerstand ungerührt sein Abendessen. Lotsen-Alltag. Vier Stunden oder rund 120 Kilometer konzentrierter Nachtfahrt liegen vor ihm.

Durch ein anspruchsvolles 322-Insel-Revier, an dem schon so manches Schiff gescheitert sei, wie er sagt: „Hier gibt es sehr viele harte Kurswechsel”. Schären-Namen wie Granfjärdsklack, Jungfrugrund oder Gimpelsstenarna sind durchaus ernst zu nehmen.

Das mächtiger werdende Eis poltert mahnend gegen den Rumpf, als wollte es die Lotsen-Worte unterstreichen. „Klimaerwärmung? Davon sind wir hier weit weg”, sagt der Mann am Ruder nachdenklich.   

21.45 Uhr: Västeras voraus, Zielhafen im Herzen der historischen Kernlandschaft Svealand. Hell erleuchtet, die 128.000-Einwohner-Stadt in der Nähe von Schloss Gripsholm, das schon für den im nahen Mariefred beerdigten Schriftsteller Kurt Tucholsky als Romanvorlage diente. „Heute eine boomende Wirtschaftsregion”, bemerkt der Lotse zu diesem literarischen Exkurs, „mit guten Aussichten auf Erweiterung, auch was Schleuse und Schifffahrtsgrößen betrifft”. Der Liegeplatz mit Kraftwerks-, Öltank- und Zementsilo-Kulisse ist alles andere als einladend ‒ wie fast jeder Handelshafen. Västland präsentiert sich als blühende Wirtschaftsregion, die sich aus Eisenhütten, Erz- und Silberbergbau sowie Hammerschmieden entwickelte.

TRANS ODIN soll hier allerdings „nur” Container und Schnittholz laden. „Wir exportieren aber”, ergänzt der Lotse, „von hier auch weltweit viele Papierprodukte, Apfelwein und Düngemittel. Europäischer Hauptabnehmer ist England”.

„22.15 Uhr fest im Mälarhamnar: 59°35’N 16°31’E”, notiert der Kapitän im Schiffstagebuch, und stellt die Maschine ab. Ruhe im Schiff.

 

 

Vom Eise befreit …

Beim ersten Landgang ist eindrucksvoll zu sehen, was See, Sturm und Kälte aufgebaut haben: ein Eispanzer-Schiff. Zumindest die Sonne signalisiert an diesem denkwürdigen Morgen – Frühlingsanfang! –, dass es nur noch aufwärts gehen kann. Selbst wenn Marcel und seine Kollegen erst mal „das Eis abkloppen und von Bord schüppen” müssen – frei nach Goethes Gedicht: „Vom Eise befreit …”. Während eine Landcrew mit Dampfstrahlern die Containerschlösser, genannt Twistlocks, auftauen müssen, sonst können die Blechkisten nicht von Bord gehoben werden. Das alles kostet zusätzlich Zeit und verzerrt den Fahrplan noch weiter. Umso besser für den Landgang downtown. Zum Öffnen des Hafentors hat Kapitän Sergej noch einen Zettel zur Hand: „Da steht die Codenummer drauf, falls Sie später als 17 Uhr zurück an Bord kommen wollen”. Und er gibt einem den Tipp, den Seitenausgang zu benutzen: „Das ist 500 Meter kürzer zur Stadt”. Sicherheitsweste übergestreift, Abmeldung bei Chief mate Pawel Skiba – „ich bin immer on duty, auf Wache” –, ein Seemann aus Stargard bei Stettin, der Patenstadt von Stralsund. Jetzt aber nichts wie los.   

Quietschende Bremsen: Ein Klein-LKW der Hafengesellschaft stoppt und sein Fahrer bietet freundlich einen Lift und damit weiteren Zeitgewinn an. Eisiger Nordostwind, vermischt mit Schneeflocken, pustet dem einsamen Marschierer auf der Mälarsee-Uferpromenade ins Gesicht. Nach einer strammen halben Stunde ist das Schloss am Eingang zur idyllischen Altstadt erreicht. Eine gute Stunde dauert die Kreuz-und-Quer-Erkundung der anheimelnden Gassen.

Als Fluchtburg zum Aufwärmen bietet sich der gewaltige Backstein-Dom an, der nicht nur auf eine 700-jährige Geschichte verweisen kann, sondern sogar vom Guide Michelin mit drei Sternen ausgezeichnet worden ist. Unter seinem fast 100 Meter hohen Turm ruht König Erik XIV. Das monumentale Kirchenschiff ist nicht nur eine Wärmehalle, sondern auch ein Hort der Stille, die man nach den vergangenen See-Tagen umso mehr genießt.

 

Quirliges Kultur- und Erlebniszentrum mit Natur       

Västerås, „die Stadt in der alles möglich ist”, wie die Tourismus-Information wirbt, bietet noch mehr: „Hier rennt man Häuserwände runter, schläft unter Wasser und feiert mit den Wikingern”. In der Tat, Västerås ist von einer Industriestadt zu einem quirligen Kultur- und Erlebniszentrum mutiert. In seinen Mauern startete nicht nur die Modekette H & M ihren Erfolgskurs, sondern man findet hier auch gleich drei prunkvolle Schlösser, den mit neun Meter Höhe und 64 Meter Durchmesser größten prähistorischen Grabhügel aus der Eisenzeit des zehnten Jahrhunderts, das einzige Unterwasser-Hotel der Welt mit Schlafräumen in drei Meter Seetiefe, ein ansehnliches Freiluftmuseum, eins für Comics und Spielzeug, darunter viele Exponate der schwedischen Königs- und der russischen Zarenfamilie und einen Tierpark mit einheimischen Arten. Eine breite Palette von Möglichkeiten, aber manches davon wäre, zugegeben, auch angenehmer während eines sommerlichen Schiffsanlaufs.   

Kontrastprogramm Natur am ersten Frühlings-Nachmittag. Mit einem Umgebungsplan aus der Schreibtisch-Schublade bewaffnet, verlässt man diesmal das Hafengelände linksherum. Immer die Hauptstraße Sjöhagsvägen entlang, dann an der Kreuzung wieder links und auf dem kombinierten Rad-Fußweg neben dem Johannisbergvägen bis zum Mälaren-Campingplatz. Dort beginnt der einsame, verschneite Wanderweg am vereisten See entlang und ein sicheres Stück über ihn. Es geht rund: um Johannisberg mit Blick auf die Silhouette von Västeras und die spielzeugkleine TRANS ODIN. Zaghaft-verheißungsvoll piepst eine Meise.

 

Nachtfahrt über den Mälar

Bilanz: zehn appetitanregende Kilometer zum Beinvertreten vor der nächsten See(n)-Fahrt. Geplante Startzeit ist 20 Uhr, wenn die Ladung komplett gestaut ist. Die um 18.30 Uhr auslaufende TISTEDAL gibt schon mal den Eisbrecher, dem ein vorausfahrender Schlepper aber die Hafenrinne frei brechen muss. Der Frachter schiebt sich wie eine Glühwürmchen-Kette über die weiße Decke des abendlichen Mälaren.

Unglaublich: Pünktlich um 20 Uhr folgt ihm TRANS ODIN in der gebrochenen Rinne, nachdem sie das Eis von der Pier gespült hat, um besser drehen zu können. Auf der Back mit „Eistannenbaum” wird unter den Decksstrahlern noch geschuftet. „Die Jungs haben schon den ganzen Tag das weiße Zeug weggehackt und von Deck geschaufelt”, erklärt Kapitän Sergej, „jetzt dürfen sie auch noch das Ankergeschirr klarieren”. Weil morgens geankert werden soll, „denn die Pier im nächsten Hafen Oxelösund ist noch belegt, what can we do?”

Sergej legt sich erst mal schlafen und überlässt dem Lotsen das Ruder, währen Marek, der Zweite, zu seiner Wache auf die Brücke kommt. Der lichtstarke Suchscheinwerfer tastet sich durch eine weitere rumplige Mälar-Nacht mit vielen Hartruder-Schlenkern, unter denen sich der Frachter jedes Mal wie bei Seegang zur Seite neigt. Übrigens: Blender gibt es auch unter Seeleuten. Der entgegen kommende Tanker NAUTILUS denkt nicht daran, seinen augenschmerzenden Suchscheinwerfer abzuschalten, was den rücksichtsvollen TRANS ODIN-Lotsen ziemlich ärgert. 

 

Seemannsleben früher und heute

Vier Uhr fünfzehn: Der Lotse ist abgestiegen, die See bringt sich unbarmherzig in Erinnerung und lässt das Schiff munter rollen. Bis sie sich vier Stunden später wieder beruhigt, weil der Anker in der schärengespickten idyllischen Bucht polternd in den Grund fällt.

In Oxelösund Hamn, von einer hässlich grau-braunen Stahlkocherei überragt, soll die Ladung durch 600 Tonnen Schweden-Stahl komplettiert werden. Aus 14 Uhr wird schon 17 Uhr, weil der Pier-Blockade-Frachter FREJ nicht eher fertig wurde. Na, mal sehen nach dem Motto: Erstens kommt es anders …

In der Messe sitzt Hans, ehemaliger Chief, der mit seiner schwedischen Frau in Oxelösund lebt und aus alter Verbundenheit bei jedem Anlauf „seine” TRANS ODIN besucht. Schnell kommt man mit dem freundlichen 69er aus dem Schwarzwald ins Gespräch, währenddessen er sein weltweit geführtes Seemannsleben aufblättert. „Die Seeleute heute”, kratzt er sich den grauen Bart, „sind doch arm dran: fahren auf dem Globus herum und sehen nichts”. Das sei doch zu unseren Zeiten ganz anders gewesen, schwärmt der Mann wie auch sein Freund Kai, der Chief, ein gelernter Koch. Er wiederum ist, wie er verrät, südlich von Danzig im früheren Westpreußen polnisch verheiratet und zu Hause: „Es ist doch ziemlich egal, wo wir Seeleute an Land leben”.

Die Sonne lacht (!) vom Himmel, und Marek, der Zweite empfiehlt: „Die Stadt ist ganz nett, mach mal bei diesem Sonnenwetter einen Spaziergang hin. In einer Viertelstunde ist man im Zentrum”. Mittelpunkt sei da der Supermarkt „Kvantum”.

 

Ein Kvantum-Schwedenkunde

So „schießen” denn zwei Ex-GORCH FOCK (II)-Fahrer an Land, wie es im Marinejargon heißt. Mit dem Auftrag von Smut Denys, noch „etwas Nahrungsergänzendes” einzukaufen: Nüsse, Schokolade, Bonbons, Äpfel – und einen Schoko-Osterhasen für den Kapitän. Eine Frau hört unsere deutsche Unterhaltung und kann’s nicht fassen: „Mein Gott, was macht ihr hier um diese Zeit bei der Kälte?!” Das sei doch eine Sommerstadt. Hervorgegangen im 18. Jahrhundert, wie man von ihr weiter erfährt, aus einer Fischer-Schärensiedlung, dem malerischen Alt- oder Gamla Oxelösund an der Sandviken-Bucht. Vom Hafen über den Gamla Oxelösundsvägen in einer halben Stunde fußläufig erreichbar. Der Kontrast zur Innenstadt mit ihren properen 60er-Jahre-Häusern fällt deutlich ins Auge.

Im Laufe des Gesprächs mit der Frau, die sowohl in Schweden als auch in Deutschland lebt, erfährt man alles zur kleinen Stadt und ihren Besonderheiten. Auch über die schwedischen Lebensverhältnisse: „Weil Svensk Stal AB die Kommunalkasse so gut füllt, zahlen wir hier weniger Steuern als die Nachbargemeinden”. Und die Preise, wird die mit Tüten beladene Hausfrau gefragt: „Zum Teil günstiger als in Deutschland, bis auf Alkohol und sogenannte Luxusgüter wie Elektronikartikel und Autos”. Schwedenkunde im Schnelldurchgang.    

Die bunten Prospekte aus der Tourist-Information indes zeigen das Sommerbild der wohlhabenden Stahl-Stadt: Wassersport, Badevergnügen, Schärenabenteuer, Naturerlebnisse, Hüttenferien.

Luken dicht! Um 18 Uhr löst sich TRANS ODIN von der Pier. Der frühlingshafte winterliche Sonnenuntergang übergießt die Schärenlandschaft mit goldenem Licht. Wenig später lässt der achterliche Schiebewind das Schiff wieder nach seiner Pfeife tanzen und rollen. Noch 17 Stunden – bis zum letzten Hafen Ahus in der südschwedischen Landschaft Schonen. Aber geschont wird der Crew-Schlaf in dieser Nacht keineswegs.

 

Vermummter Eisbrecher

Land in Sicht gegen neun Uhr am nächsten Morgen. Die Sonne lacht, die Ostsee hat sich beruhigt und die Wellen laufen geschwindigkeitssteigernd mit. Noch zwei Stunden bis „Buffalo”, denn voraus schieben sich die markanten Silos von Ahus an der Hanebukten über die Kimm. Man sieht es jetzt nicht nur, sondern später riecht man die gärende Silage auch.  

Der Hafen ist komplett von Eis verschlossen. „Da müssen wir wohl Eisbrecher spielen”, grinst der Kapitän und zieht sich für die Manöverfahrt von der Nock aus warm an. Dazu gehört auch eine schwarze Gesichtsmaske, „denn an Bord kein Vermummungsver-, sondern ein -gebot”. Mit dem Bugstrahlruder quirlt er das Eis von der Pier.

12 Uhr, high noon: fest in Ahus nach vielem, mühsamen Vor- und Zurücksetzen im schiffsengen Fahrwasser ‒ eine Stunde Verlust. Landgang? Kapitän Sergej runzelt die Stirn und schaut auf die Uhr: „Maximal eine Stunde”.

Noch ein wie aus dem Ei gepelltes Städtchen. Die besonnte Uferpromenade mit bunten Holzhäuschen lockt zu einem ersten Frühlingsspaziergang, doch der lässt ‒ statt seines blauen Bandes ‒ wenig später „Frau Holle” wieder zum Dienst antreten.  

Erst um halb drei schwebt der letzte von 16 Containern an seinen Platz. Eine Viertelstunde später dampft der mit 2000 Tonnen beladene Frachter hinaus in die Bucht, von wütender See angesprungen. „Doch wir drehen bald nach Südwest und laufen dann mit dem Wind”, beruhigt Marek und übernimmt seine Wache. Schon drei Stunden später ist die tief verschneite Insel Bornholm querab. Bei über 14 Knoten rauschender Fahrt soll gegen sieben Uhr früh der Lotse vor Kiel an Bord kommen. Voraus läuft der Frachter ICE RUNNER – welch ein Zufall?!

Nach weiteren neun Stunden heißt es Abschied nehmen nach 97 Kilometern im Nord-Ostsee-Kanal, dem „Silberband zwischen den Meeren”. 1153 Seemeilen mit TRANS ODIN auf der Suche nach dem Frühling, der noch immer spätwinterlich kalt ist wie seit 60 Jahren nicht mehr. Oder anders herum: göttlich-nordisch durchs Eis. Im Sommer lockt dann das Kontrastprogramm mit Badespaß im Mälarsee.

 

Schiffsdaten MS TRANS ODIN

Bauwerft: J.J. Sietas KG & Co, HH-Neuenfelde; Bau-Nr.: 1100; Werft-Typ: 154; Fertigstellung (als ODIN): Oktober 1994; Eigner/Reederei: Claus-Markus Speck KG; Charterer: Reederi AB Transatlantik/PAL-Line, Skärhamn, Schweden (Chartername: TRANS ODIN); BRZ: 2997; DTW: 4365 (auf Sommertiefgang: 4530 t); Länge (ü.a.): 97,5 m; Breite: 15,9 m; Tiefgang (maximal): 5,9 m; Höhe Kiel-Mast: 36 m; TEU (maximal): 304; Eisklasse: A1; Klasse: Germanischer Lloyd (GL): + 100 A5 E2;  Crew: 9 ;  Passagiere: 2; Internetzugang von der Brücke bzw. über VLAN; Maschine: Typ 8 M 453C, Leistung: 2700 kW, Krupp MaK, Kiel; Geschwindigkeit (maximal): 14,8 kn; IMO-Nr.: 9101144; Flagge: Antigua & Barbuda; Heimathafen: St. John’s,

 

Reisebuchungen

Reederei Speck: Telefon 04332-99710, reederei.speck@t-online.de 

oder: Frachtschiff-Touristik Kapitän Zylmann GmbH, Mühlenstraße 2, 24376 Kappeln; Telefon 04642-96550; www.zylmann.de

 

Reisepreis

Preis für die zehntägige Nord-Ostsee-Rundreise mit Häfen in Schweden (normalerweise Västeras, Öxelesund, Ahus), Polen (Stettin) via NOK nach England (Hull); es kann auch noch ein holländischer Hafen bei Amsterdam und das schwedische Nyköping hinzukommen): 60 € pro Person und Tag. Die Route ist stark nachgefragt, darum gilt rechtzeitige Buchung. Aber es gibt noch ein Schwesterschiff auf dieser Strecke: TRANS FREJ, ein weiteres ist geplant.

 

Reisedauer wie beschrieben

1 Woche; Seemeilen (Kiel-Holtenau-Schweden-NOK-Brunsbüttel) gesamt: 1153 Seemeilen.

MS TRANS ODIN im Konvoi vor der Holtenauer Hochbrücke.MS TRANS ODIN im Konvoi vor der Holtenauer Hochbrücke.

Blick in die gemütliche Passagier-Eignerkabine.Blick in die gemütliche Passagier-Eignerkabine.

 

Vor dem Festmachen in der Schleuse Holtenau.

Vor dem Festmachen in der Schleuse Holtenau.

MS TIMBUS im Ostsee Wintersturm.MS TIMBUS im Ostsee Wintersturm.

 

Ostsee-Wintersturm und beginnende Vereisung.

Ostsee-Wintersturm und beginnende Vereisung.

Eis-Weihnachtsbaum auf dem Vorschiff.

Eis-Weihnachtsbaum auf dem Vorschiff.

100 Tonnen Eis an Deck – Vorschiff unter Eispanzer.100 Tonnen Eis an Deck – Vorschiff unter Eispanzer.

Schwedisches Lotsenboot längsseits, Lotse steigt über.

Schwedisches Lotsenboot längsseits, Lotse steigt über.

Zweiter Offizier Marek arbeitet an der Seekarte.

Zweiter Offizier Marek arbeitet an der Seekarte.

Eisrinne durch den Fjord Himmerfjärden.Eisrinne durch den Fjord Himmerfjärden.

Schleuse Södertälje voraus.Schleuse Södertälje voraus.

 

Fahrrinne durch den vereisten Mälarsee.

Fahrrinne durch den vereisten Mälarsee.

Blick über den vereisten Fluss Svartån auf die Altstadt von Västerås am Mälaren.Blick über den vereisten Fluss Svartån auf die Altstadt von Västerås am Mälaren.

Altstadthäuser am Fluss Svartån.Altstadthäuser am Fluss Svartån.

Der Backstein-Dom von Västerås.Der Backstein-Dom von Västerås.

Radfahrer-Skulptur in der Altstadt von Västerås.Radfahrer-Skulptur in der Altstadt von Västerås.

 

Schnittholzpakete vor dem Verladen im-Mälarhamnen von Västerås.

Schnittholzpakete vor dem Verladen im-Mälarhamnen von Västerås.

Nachtfahrt durch die Schleuse Mälaren-Ostsee in Södertälje.
Nachtfahrt durch die Schleuse Mälaren-Ostsee in Södertälje.

Felsen hart neben der Oxelösund-Einfahrt.Felsen hart neben der Oxelösund-Einfahrt.

 

Der Yachthafen von Oxelösund liegt noch im Winterschlaf.

Der Yachthafen von Oxelösund liegt noch im Winterschlaf.

Blick von Ahus auf Hafen und Schiffe.

Blick von Ahus auf Hafen und Schiffe.

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