Seereisenmagazin Die ganze Welt der Kreuzfahrt

 

Editorial Ausgabe 6-2014 

hr

Foto: Herbert Fricke, Hamburg 

Herbert Fricke · Ressortleiter HamburgMagazin

Gedanken an der Reling

An der Reling nicht zu denken geht nicht. Wer an der Reling steht, denkt. Ob mit beiden Armen auf das matte Teakholz gestützt oder auf das gelackte Mahagoni. Es ist unmöglich, an der Reling nicht zu denken. Probieren Sie es aus. Auch wer an der Reling sitzt, mit beiden Füßen auf einer der weißen Querstangen, und in die Ferne schaut – der denkt. Die denkt. Manchmal auch zwei gemeinsam. Stehen da und schweigen. Glücklich schweigen ist besser als unglücklich reden. Der Mensch an der Reling erdenkt und bedenkt, er denkt sich etwas aus oder in etwas hinein. Er denkt nach oder vor. Denkt zurück oder weiter. An das Leben, an den Tod. An die Zeit vor unserem Leben, in unserem Leben, nach unserem Leben. Das Leben lebt ja immer weiter. Mit uns oder ohne uns. Das große Leben kümmert sich nicht um unser kleines Leben. Ob Bundeskanzler oder Gärtner, das interessiert das Leben nicht. Was jemand ist, wer jemand ist, das interessiert sie nicht, die Ewigkeit. Da unten, dieses tiefe Blau, das ist das Leben. Das Blau ist nur gespiegelter Himmel. Das Meer ist farblos. Ohne Leben kein Wasser, ohne Wasser kein Leben. Es gibt Milliarden Himmelskörper ohne Wasser und ohne Leben.

Sind wir wirklich das einzige bewohnte Sandkorn im Universum? In dieser funkelnden Wüste der Ewigkeit? Was ist das denn, die Ewigkeit? Unser Leben ist weniger als ein Händeklatschen in der Ewigkeit. Wann fing die an, wann hört sie auf? Seit wann gibt es schon die Ewigkeit? Und wie lange dauert sie noch? Die meisten Menschen leben noch nicht. Unglaublich viele Milliarden haben schon auf dem Erdball gelebt in den bisherigen Jahrtausenden, seit unser Planet bewohnbar ist. Seit der Zeit, bis zu der man zurückforschen kann. Aber viel, viel mehr, unvorstellbar viele Billionen mehr werden ja noch kommen, werden auf der Erde geboren, leben 70, 80, 90 Jahre hier und gehen wieder ab. Ständiger Rollenwechsel auf unserer Bühne Erde – in den nächsten Jahrhunderten, Jahrtausenden und Jahrtausenden danach.

Aber niemals können auf Erden je so viele Menschen geboren werden, wie es Sterne im Universum gibt. An der Reling schaut man ja des nachts ganz gern hinauf, wenn es wolkenlos funkelt über dem dahingleitenden Schiff. Dann zieht man sich in dunkler Tropennacht auch gern einen Liegestuhl heran und lässt, auf dem Rücken liegend, den Blick immer weiter eindringen ins All. Je länger man schaut, von keiner Lampe gestört, desto mehr kann man sehen vom unglaublichen Sternenmeer. „Gibt es für jeden von uns einen Stern da oben?” habe ich mal den Dr. Übelacker an der Reling gefragt, den früheren Chef des Hamburger Planetariums. Und der hat geantwortet: „Einen für jeden? Wir sind jetzt rund acht Milliarden Menschen auf der Erde. Für jeden von uns gibt es mindestens acht Milliarden Sterne! Jedenfalls so weit wir bis jetzt sehen können. Dahinter gibt es noch viel mehr!“

Ja, was hinter dem dahinter kommt, wo es anfängt oder aufhört, das Universum, das konnte mir selbst dieser kluge Astronom nicht sagen. Raumschiffe, die dem Geheimnis der Ewigkeit näherkommen sollen, sind ja seit Jahrzehnten unterwegs. Sie haben dramatische Bilder geliefert. Aus der Unendlichkeit an das winzig kleine blaue Sandkorn namens Erde zurückgefunkt. Aber immer mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gegeben. So sieht man an der Reling ja nicht nur weiter als an Land. Man denkt auch weiter. Gedanken an der Reling sind wie Wellen. Es gibt niemals keine Wellen. Gut, ab und zu mal glatte See und Flaute. Dann nennt man die Bewegung des Meeres Dünung. Aber bewegungs-los ist das Meer niemals. Und Gedankenflaute an der Reling gibt es nicht. An der Reling denkt man zwar nicht an Konto-Auszüge oder Autoreparaturen. Nicht an Stromrechnungen oder Schilddrüsenüberfunktionsmedikamente. Man denkt viel weiter, und nichts löst mehr

Gedanken aus als gerade gedachte Gedanken. Und dann kommt man, wie es ja sprichwörtlich heißt, von Pontius zu Pilatus, vom Halbmond da oben zum Kreuz mit dem Kreuz ...

Auf jeden Fall stärkt so eine Nacht an der Reling die Gewissheit, dass alle Religionen nichts als Sagen sind. Erfunden, um Menschen zu unterwerfen. Um Kriege begründen zu können, seit Jahrtausenden und bis in die Gegenwart hinein. Früher waren es Kreuzzüge. Heute sind es Halbmondzüge. Ob Ritterorden oder ISIS, die Motive sind die gleichen. Ob Sharia oder Scheiterhaufen. Sich Menschen untertan zu machen, ist das Ziel aller Religionen. Koran und Bibel und all die anderen Überlieferungen sind Märchenbücher. Nicht nur Hubble hat sie längst alle widerlegt. „Aufgefahren gen Himmel” und dort „sitzend zur Rechten Gottes”, wie kann es sein, dass täglich Millionen „Gläubige” diesen Unsinn vor sich hinmurmeln, im wahrsten Sinn des Wortes „nachbeten”, wenn das doch physikalische Unmöglichkeiten sind? Religionen – wirklich „Opium für’s Volk”? Wie kann es sein, dass man solche Märchen an Universitäten immer noch „studieren” kann? Theologie als Märchenkunde? Ob Koranschule oder Jesuiten-Kolleg, wie kann sich das alles halten im Zeitalter von Nachweisbarkeit und Digitalisierung?  

Aber an der Reling geht der Blick nicht nur nach oben, auch nach unten. Das Meer hier ist 7.500 Meter tief. Siebeneinhalb Kilometer nichts als Wasser. Das Meer scheint blau hier oben, schwarz da unten, ist aber in Wirklichkeit eine farblose ungeheure Salzwassermenge. Vom Tauchen her weiß ich: das Tageslicht reicht bis etwa 50 Meter, darunter ein Streifen diffuse Dämmerung und dann nichts als ewige Dunkelheit. Ewige nasse Nacht. Viel mehr Meer als Land bedeckt den Globus. Der besteht zu vier Fünfteln aus Wasser. Also müssten wir unseren Planeten nicht „Erde” nennen, nicht „Terra”, sondern treffender „Oceania”. Alles Leben auf unserem Planeten stammt aus dem Wasser. Vielleicht ist Gott ein Fisch? Dann müssten die Gläubigen nicht nach oben beten, sondern nach unten. Beten sie alle in die falsche Richtung?

An der Reling erkennt man: das Meer ist wichtigster Transportweg des Menschen. Schiffe transportieren die Güter dieser Welt von einem Kontinent zum anderen. Handel als Grundlage unserer Existenz. Deutsche Autos nach Australien. Neuseeländische Kiwis nach Deutschland. Indischen Tee nach England. Irischen Whiskey nach Florida. Ägyptische Baumwolle nach Bangladesh. Norwegischen Aquavit von Norwegen nach Norwegen. Damit er auf See ununterbrochen in Holzfässern schaukelt und dabei immer gelber wird. Gelb wie andere bei Seekrankheit. Einmal über die „Linje”, über den Äquator und zurück. Wichtiger als solche Liebhaberei sind die Linienschifffahrt, neuerdings ja mit drei „f” zu schreiben, die Trampschifffahrt, die Kühlschifffahrt, die Containerschifffahrt, die Tankschifffahrt…und die schönste von allen ist die Kreuzschifffahrt.

Aber in Gedanken an der Reling fragt man sich auch nach dem Sinn oder Unsinn der teuersten Art von Seefahrt, die sich weltweit ja „Marine” nennt? Ihre Schiffe sind zwar Kriegsschiffe, aber alle vermeiden den Ausdruck „Kriegsschifffahrt”. Marine hört sich angenehmer an. Nicht so widersinnig und anachronistisch, wie das teure und überflüssig gewordene Spielzeug der Admiräle ja in Wirklichkeit ist. Übrigens waren fast alle deutschen Kreuzer und Schlachtschiffe unter der „Reichskriegsflagge” teure Totalausfälle. Sie sanken auf den Meeresboden, bevor sie überhaupt richtig zum Einsatz gekommen sind, geschweige denn dem Feind auf See größeren Schaden hätten zufügen können. Ob die BLÜCHER, die – ohne einen Schuss abgegeben zu haben – im Oslofjord versank, ob die TIRPITZ hoch oben im Norden oder die GRAF SPEE im Rio de la Plata oder all die anderen grauen Kolosse – sie hatten keinerlei Einfluss auf je einen Kriegsausgang. Schon Pearl Harbour hat gezeigt, wie hilflos selbst eine hochgerüstete Marine gegenüber Flugzeugen ist ...

Die Marinen dieser Welt sind eine stumpfe Waffe geworden angesichts des rasanten technischen „Fortschritts” im Flugzeug- und Raketenbau. Selbst die supermodernste Fregatte hat nicht den Hauch einer Chance gegen Tarnkappenbomber, ferngesteuerte Flugtorpedos oder Dronen. Bereits der Falklandkrieg hat ja bewiesen, wie aussichtlos die argentinischen Renommier-Kreuzer gegen die britischen Flugzeuge (schon damals!) gewesen sind. Aber sie werden weitergebaut, unsere Fregatten und Korvetten, unsere U-Boote und Schnellboote. Milliarden werden verpulvert für ein eigentlich aus der Zeit gefallenes Kriegsspielzeug. Die Fregatte HAMBURG, nur um ein aktuelles Beispiel zu nennen, hat 1,5 Milliarden € gekostet. Das entspricht der Steuerbelastung aller Arbeitnehmer einer ganzen Großstadt wie Köln, Hannover oder Frankfurt. Die deutschen Lenkwaffenzerstörer LÜTJENS und MÖLDERS haben in den 20 Jahren ihrer teuren Existenz keinen einzigen scharfen Schuss auf irgendeinen Gegner abgefeuert. Schon diese viel zu großen Einheiten waren am Bedarf vorbeigebaut. Die Relationen von Kosten und Nutzen waren und sind absolut widersinnig. Was die Marine wirklich braucht, sind kleine, schnelle, küstentaugliche Einheiten, etwa gegen Piraterie, aber solche Boote hat sie nicht. Stattdessen schwimmende Hochtechnologie, teuer, angreifbar und sinnlos.

Auch solche und viele andere Widersprüchlichkeiten werden einem an der Reling bewusst. Man kommt ja dort ins Denken und ins Grübeln, ins Zweifeln und Verzweifeln, aber wenn dann die Möwe den weit hinaus geworfenen Keks im Flug erwischt, dann denkt man: wenigstens die hat einen funktionierenden Marschflugkörper. 

Das alles geht einem nachts an der Reling so durch den Kopf, und wenn dann – wunderschön auf See – die Sonne „aufgeht”, dann geht sie ja nicht auf, sondern wir drehen uns langsam in ihren Strahl hinein. Nirgends erlebt man diesen Wechsel von Tag und Nacht intensiver als an der Reling weit draußen auf See. Der Bug, der die Wellen teilt, das Schiff, das durch’s Wasser gleitet, der Wind, die Salzluft, man kann der Natur nirgends näher sein als an der Reling. Vielleicht macht das ihre magische Anziehungskraft aus. Gedanken an der Reling, denken Sie sie doch auch mal wieder.

Willkommen an der Reling, Ihr Herbert Fricke  

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