AUSGABE 3/2012
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Foto: Axel Baumann, Schenefeld Fast lautlos gleitet die WILHELM THAM aus dem Schleusensystem Borenshult.

   

Es ist halb vier am Morgen. Zwei Frauen und vier Männer stehen am Bug der WILHELM THAM im Hafen von Motala und warten auf die Abfahrt. Längst ist es wieder hell, aber die Sonne versteckt sich noch hinter tief hängenden Regenwolken. Im kleinen Aufenthaltsraum des 100 Jahre alten Schiffes gibt es Kaffee und belegte Brötchen für die Frühaufsteher. Schon seit einer Stunde sollte das Schiff an der Fünf-Kammer-Schleusentreppe in Borenshult sein. Hier singt gelegentlich die Nachtigall.

Leider ruft sie nicht in Motala. Sonst hätte Brückenwärter Erik sie sicherlich gehört und nicht verschlafen. Nun beginnt die Reise auf dem Götakanal durch Mittelschweden mit eineinhalbstündiger Verspätung.  

Langsam öffnen sich die Straßenbrücken von Motala und stehen Spalier bei der Durchfahrt der WILHELM THAM. Die frisch gestylte 30 Meter lange Lady nimmt Fahrt auf. Fast lautlos gleitet sie mit gemütlichen fünf Knoten Geschwindigkeit, das sind zehn Stundenkilometer, durch den Kanal und nähert sich nun endlich dem Schleusensystem Borenshult. Wie eine Alleenstraße schlängelt sich der Kanal durch die Landschaft. Mal gibt er den Blick frei auf tiefliegende Seen, mal überquert er Straßen über ein Viadukt. Schafe weiden am Uferrand und halten im Auftrag der Götakanal-Gesellschaft den Graswuchs im Zaum. Die Sonne hat inzwischen die dunklen Wolken zur Seite geschoben und lässt einen Sternenteppich auf dem Wasser glitzern.  

Klaus, ein Endsechziger aus Köln und von fülliger Statur, erscheint verschlafen an Deck: „Ich bin ja schon viel gereist, aber jedes Schlafwagenabteil im Zug bietet mehr Bequemlichkeit als diese schmalen Betten hier, brummt er. In der Tat sind die Kabinen sehr eng und für den verwöhnten Reisenden von heute gewöhnungsbedürftig. In einem Raum mit gerade mal drei Quadratmetern gibt es zwei Doppelstockbetten mit einer gefühlten Länge von einem Meter siebzig. An der Innenbordwand hängt ein klappbarer Waschtisch. Für den großen Reisekoffer ist kaum noch Platz. Toiletten und Duschen hingegen sind sehr geräumig und befinden sich für das Unterdeck an Heck und Bug, für die Oberdeckkabinen mittig am Gang. Ein Bademantel liegt in jeder Kabine bereit.  

Eine Fahrt auf dem Götakanal ist ja auch keine Kreuzfahrt, befindet Sabine aus Berlin: Hier sollst du Ruhe inhalieren und abschalten. Es gibt weder Fernseher noch Radio an Bord. Keine aktuelle Tageszeitung. Auch Handys sind unerwünschte Mitbringsel.  

„Außer MS WILHELM THAM, das 1912 gebaut wurde, gibt es noch zwei weitere Boote, informiert Peter Guggenheimer, der seit fünf Jahren als Cruise Manager und Guide tätig ist: „MS DIANA ist seit 1931 im Dienst. MS JUNO aus dem Jahre 1874 ist der weltweit älteste registrierte Passagierdampfer mit Übernachtungsmöglichkeit. Alle drei Schiffe haben 25 bis 29 Kabinen, einen Speiseraum und einen Aufenthaltsraum mit Bibliothek.

Um auf dem Weg vom Kattegat zur Ostsee nicht durch den dänischen Öresund fahren und „Sundzoll zahlen zu müssen, gab König Karl XIII. 1810 die Erlaubnis zum Bau des Kanals quer durch Schweden. 1832 wurde die Strecke eröffnet. Nur wenige Jahrzehnte vor Beginn des Eisenbahnzeitalters errang der Götakanal keine entscheidende ökonomische Bedeutung mehr. Er hat eine Länge von 190,5 Kilometern. Zusammen mit dem Trollhättan-Kanal und dem Göta-Fluss ergibt sich eine 390 Kilometer lange Wasserstraße zwischen Göteborg und Stockholm. „Um die 91,5 Meter Höhenunterschied zwischen Ostsee und Kattegat zu überwinden, passieren wir auf der gesamten Strecke 58 Schleusen, erklärt Guggenheimer.

Am späten Nachmittag erreicht das Schiff die siebenstufige Schleusentreppe „Carl-Johans-Schleusen bei Berg am westlichem Ufer des Roxensees. Mit ihren sieben Kammern die Attraktion auf dem Kanal. Präzisionsarbeit ist gefordert, um fast 19 Meter Höhendifferenz zu bewältigen. In den Schleusenkammern bleiben an beiden Schiffswandseiten nur wenige Hand breit Platz. Steuermann Tomas Blau manövriert mit nur einer Antriebsschraube und Ruder. Frisch geschnittene Rundhölzer schützen die Schiffswand wie Fender. Die meisten müssen nach einer Kanaldurchfahrt erneuert werden.

Von Söderköping geht es mit dem Bus zurück zum Ausgangspunkt Motala. Ab jetzt verläuft die Erkundungsreise entlang der Ostseite des Vätternsees auf dem Landweg.

Ein Paradies für Kinder und jung gebliebene Jahrmarkt- und IKEA-Bummler ist der kleine Ort Gränna. Hier werden noch wie seit Mitte des 19. Jahrhunderts die

 

typischen schwedischen Zuckerstangen „Polkagrisar (Polkaschweinchen) und weißrote Zuckerbonbons mit Pfefferminzgeschmack hergestellt. „Amalia Eriksson, eine 25-jährige Witwe aus Gränna, erhielt 1859 die Erlaubnis, eine Bäckerei zu eröffnen und dort auch Zuckerstangen herzustellen. Sie legte damit den Grundstein für die Produktion der rot-weißen Leckereien, erzählt Pierre Wibäck, während er Zucker, Wasser und Essig miteinander vermischt. Nach dem Kochen wird ein kleiner Teil der Masse rot eingefärbt. Der Rest mit Pfefferminzöl aromatisiert. Diesen Teig knetet der Bäckermeister und formt ihn länglich aus. Schließlich legt er den roten Strang auf den weißen. Bevor die Masse erhärtet, bleiben ihm zehn Minuten Zeit, um durch Rollen die Zuckerstangen auf die richtige Verkaufsgröße zu bringen.  

Eine „zündende Attraktion erwartet Besucher im vierzig Kilometer entfernten Jönköping. „Kein anderes Erzeugnis hat Schweden und unseren Ort so bekannt gemacht wie das Sicherheitszündholz, berichtet Anna Buhr bei ihrer Führung durchs einzige Streichholzmuseum Schwedens. Untergebracht ist das kleine Museum in einem weißen Holzgebäude aus dem Jahre 1848. Es gehörte einst zur ersten Zündholzfabrik in Jönköping. Viele Exponate zeigen die Entwicklung von der manuellen bis zur industriellen Streichholzproduktion. „Aber es gibt leider auch menschliche Schicksale, die mit der Herstellung von Streichhölzern verbunden sind, weiß die Museumsführerin: „Lena Törnqvist zum Beispiel war eine Arbeiterin, die an Phosphornekrose erkrankte. Ihre Aufgabe bestand darin, die geschwefelten Espenstäbchen in flüssige Phosphormasse zu tauchen. Die Dämpfe des äußerst giftigen Phosphors stiegen ihr ins Gesicht. Lenas Zahnfleisch entzündete sich, ihre Zähne fielen aus. Auch die Kieferknochen wurden angegriffen und so brüchig, dass Teile davon entfernt werden mussten. Doch trotz eines kargen Lebens und Krankheit wurde sie 80 Jahre alt.  

Ein letzter Abstecher führt in das Naturreservat Omberg. Der Ökopark ist seit 2003 ein geschütztes Wald- und Landschaftsgebiet mit altem Buchen- und Naturfichtenwald sowie Kalkmooren, in denen zahlreiche Orchideen wachsen. „Wir befinden uns jetzt auf den Eiszeitweg, sagt Ranger Lars Frölich: Unter uns verläuft eine glaziale Rinne oder ein Tunneltal, in dem noch heute unterirdisch kleine Flüsse vom Omberg über Granitgestein in ein Sumpfgebiet fließen und in einer moorähnlichen Wiese wieder zum Vorschein kommen. Ein idealer Lebensraum für Orchideen.  

Die Sonne steht schon tief und zieht über dem kleinen Buchenwald sichtbar von West nach Nord. Vielleicht ist heute noch eine Nachtigall zu hören, aber auch wenn sie schweigt, sind Götakanal und Vätternsee eine Reise wert.

 

Anreise-Informationen

Anreise mit dem eigenen Auto von Kiel nach Göteborg mit Stena Line oder ab Travemünde oder Rostock nach Trelleborg mit TT-Line www.ttline.com/de/Germany 

Flugverbindungen von verschiedenen deutschen Flughäfen nach Stockholm oder Göteborg: www.lufthansa.com   

 

Götakanal-Angebote

www.atiworld.de bietet Reisen auf und viele Infos rund um den Götakanal an.  www.dertour.de bietet ein vielfältiges Baukastensystem für die individuelle Gestaltung von Rundreisen in Schweden. Längere Kanalreisen oder eine Schnupperreise auf der Teilstrecke Motala bis Söderköping oder in umgekehrter Richtung gibt es bei www.nordic-holidays.de oder bei der Reederei AB Göta Kanal, Pusterviksgatan 13, SE-41301 Göteborg, bookings@gotacanal.se, Telefon + 46 31-80 63 15, www.stromma.se/de/Gota-Kanal   

 

Ausflugsziele

Streichholzmuseum Jönköping, www.matchmuseum.se · Naturpark Omberg www.naturus.se · Allgemeine Schweden-Auskünfte: Visit Sweden Stortorget 2-4, SE-831 30 Östersund, www.visitsweden.com · Telefon aus Deutschland 069-2222 3496 (normaler Tarif), Telefon aus Österreich 0192 86702 (normaler Tarif), Telefon aus der Schweiz 044 5806294 (normaler Tarif).

Foto: Axel Baumann, Schenefeld

Das altehrwürdige Gebäude der Götakanal-Betreibergesellschaft in Motala.

Foto: Axel Baumann, Schenefeld  Die Passagiere warten an Bord der WILHELM THAM im Hafen von Motala auf die Abfahrt.

Foto: Axel Baumann, SchenefeldSicherheitseinweisung mit Peter Guggenheimer, der seit fünf Jahren als Cruise Manager und Guide auf dem

Götakanal-Schiff WILHELM THAM tätig ist.

Foto: Axel Baumann, Schenefeld

Steuermann Tomas Blau manövriert mit nur einer Antriebsschraube und Ruder.

Foto: Axel Baumann, Schenefeld
Im Restaurant nehmen die Gäste ihre Plätze ein für das Mittagessen.

Foto: Axel Baumann, Schenefeld

Toiletten und Duschen sind recht geräumig und
befinden sich an Heck und Bug.

Foto: Axel Baumann, Schenefeld

In den Mini-Kabinen von gerade mal drei Quadratmetern gibt es zwei Doppelstockbetten mit einer gefühlten Länge von einem Meter siebzig.

Foto: Axel Baumann, Schenefeld
Auf dem Götakanal fahren die Schiffe auf Brücken über Straßen.

Foto: Axel Baumann, Schenefeld

Der Anfang der siebenstufigen Schleusentreppe „Carl-Johans-Schleusen”.

 

Foto: Axel Baumann, SchenefeldBlick über die Schleusentreppe „Carl-Johans-Schleusen” auf den Roxensee.

Foto: Axel Baumann, Schenefeld
Idylle am Götakanal.

Foto: Axel Baumann, Schenefeld

Die Schleusenfahrt ist eine einzige Herausforderung

an den Steuermann.

Foto: Axel Baumann, Schenefeld

Ein Traditiossegler unter Motor auf Gegenkurs auf dem 390 Kilometer langen Wasserweg zwischen Göteborg und Stockholm.

Foto: Axel Baumann, Schenefeld

Das Streichholzmuseum in Jönköping birgt kleine Schätze rund ums schwedische Sicherheitszündholz ...

Foto: Axel Baumann, Schenefeld

 ... hier das Museum von außen.

Foto: Axel Baumann, Schenefeld

Im kleinen Ort Gränna werden noch wie seit Mitte des 19. Jahrhunderts die typischen schwedischen Zuckerstangen „Polkagrisar (Polkaschweinchen) und
weißrote Zuckerbonbons mit Pfefferminzgeschmack hergestellt.

Foto: Axel Baumann, Schenefeld

Amalia Eriksson, eine 25-jährige Witwe aus Gränna ...

Foto: Axel Baumann, Schenefeld

... erhielt 1859 die Erlaubnis, eine Bäckerei zu eröffnen und dort auch Zuckerstangen herzustellen.

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